Aus der Asche des 11. September kriechen die alten Geister: Keine neue Weltordnung

Hat sich die Weltpolitik nach dem 11. September verändert? Im Gegensatz zum amerikanischen Politologen Benjamin Barber (siehe Link im Anschluss an diesen Text) fürchtet sein französischer Kollege Zaki Laïdi, dass alles noch schlimmer wird.

Es ist noch zu früh, um zu wissen, ob der 11. September 2001 einen bedeutenden Einschnitt in der globalen Dynamik nach sich gezogen hat. Die Geschichte kennt zahlreiche Situationen, die man für Zäsuren gehalten hat, die dies im Licht der Tatsachen aber nicht gewesen sind. Das Gegenteil trifft ebenfalls zu. Damit ein Einschnitt entsteht, muss etwas Aussergewöhnliches geschehen sein, und gleichzeitig muss sich das Handeln der Akteure dem anpassen und sich folglich modifizieren. Nichts beweist bis jetzt, dass wir so weit sind. Beginnen wir zunächst mit den Grundaussagen des 11. September. Es sind drei an der Zahl.

Drei Aussagen

Erstens ist der Westen, zweifellos zum ersten Mal, seit er die Welt beherrscht, in seinem Zentrum von einem – auch noch nichtstaatlichen – Akteur aus dem Süden angegriffen worden. In symbolischer Hinsicht ist dieser Umstand nicht ohne Bedeutung. Er spiegelt eine bestimmte im Süden entstandene Unzufriedenheit wider. Er lässt die wachsende Rolle nichtstaatlicher Akteure im globalen Spiel erkennen. Er hebt die technische und technologische Kapazität hervor, über die Akteure aus dem Süden nun verfügen. Die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan staunten zum Beispiel über das hoch entwickelte Material, das dem Al-Kaida-Netz zur Verfügung stand.

Zweitens erleben wir, das ist die nächste Aussage, die erste politische Krise der Globalisierung. Darunter ist zu verstehen, dass internationale Krisen nun nicht mehr nur miteinander in Konflikte verwickelte Staaten ins Spiel bringen, sondern auch Staaten jeder Art, nichtstaatliche Akteure – heute terroristische, morgen mafiose – und Akteure des Marktes, eines monetarisierten und globalen Marktes.

Mit der asiatischen Krise von 1997/98, die sich bis nach Lateinamerika und Russland auswirkte, haben wir die erste Finanzkrise der Globalisierung erlebt, denn der monetäre Ansteckungsmechanismus hat Länder erreicht, die keine Finanzbeziehungen mit dem Herd der Krise unterhielten. Anders gesagt, die Krise hat Thailand und dann Brasilien getroffen, obwohl diese beiden Länder kaum in Verbindung miteinander stehen.

Zu dieser Finanzkrise kam seit 1998 eine Krise des sozialen Vertrauens in die Globalisierung hinzu, die mit der Entstehung der Antiglobalisierungsbewegungen ans Licht trat. Die Entwicklung dieser Bewegung bedeutete und bedeutet zweierlei: Das eine ist Ausdruck sozialer Unzufriedenheit mit einer Logik ökonomischer und finanzieller Deregulierung, deren Wohltaten weder in einem angemessenen Verhältnis zu den verlangten Opfern zu stehen scheinen noch sozial gerecht verteilt sind. Diese Unzufriedenheit existiert ebenso in den Gesellschaften des Südens wie denen des Nordens, auch wenn zwischen Norden und Süden keine Einigkeit über einen Ausweg aus dieser Situation besteht.

Im Norden insistiert die Bewegung auf der Humanisierung der Globalisierung, die sich grundlegender Sozialklauseln und Umweltnormen bedient. Diese Ziele werden von den Gesellschaften des Südens grossenteils jedoch bekämpft, nicht weil diese für eine entfesselte Liberalisierung einträten, sondern weil sie in der Festsetzung ökologischer und sozialer Normen eine versteckte Form von Protektionismus sehen.

Die Antiglobalisierungsbewegungen entgehen diesen Widersprüchen selbstverständlich nicht. Diese soziale Unzufriedenheit verurteilt nicht unbedingt die Globalisierung. Man könnte die Sache sogar umdrehen. Denn die Tatsache, dass die sozialen Akteure ihrerseits sich in die Globalisierung einmischen, bringt den Willen zum Vorschein, sich die Globalisierung sozial anzueignen und ihre ausschliessliche Bestimmung und Lenkung durch ökonomische Interessen zurückzuweisen. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass sich alle Gesellschaften heute durch die soziale Akzeptanz der Globalisierung herausgefordert sehen.

Die Bedeutung dieses Elements ergibt sich aus einer einfachen, im Allgemeinen aber wenig geläufigen Erklärung. Der Wettbewerb, der sich heute im Weltmassstab entwickelt, bringt nicht nur, wie angenommen wird, Volkswirtschaften in Konkurrenz zueinander, sondern auch die Sozialsysteme, die Identitäten, die kulturellen Werte. In diesem Kontext der Instabilität hat sich der 11. September abgespielt.

Die Weltmacht Nummer eins sah sich im Herzen dessen getroffen, was den weltweiten Kapitalismus symbolisierte: das World Trade Center. Dies hat sie auch begreifen lassen, dass künftig keine Gesellschaft unverwundbar ist und dass die Globalisierung Kettenreaktionen in Form von sozialen und finanziellen Entregelungen hervorbringt. Der 11. September zwingt zu einer politischen und nicht bloss ökonomischen Lektüre der Globalisierung.

Drittens. Die dritte Aussage ergibt sich aus der zweiten. Seit dem 11. September ist kein einziger Akteur, auch nicht die USA, in der Lage, der Welt irgendein Ordnungsprinzip anzubieten. Das ist ein mir zentral erscheinender Gesichtspunkt. Jenseits des Kampfs gegen den Terrorismus scheint niemand wirklich imstande zu sein, eine neue Vision für die Welt vorzulegen. Niemand wagt von einer neuen Weltordnung zu sprechen, und zwar einfach deshalb, weil niemand weiss, was dieser Ausdruck bedeutet.

Jahrzehntelang beruhte das Ordnungsprinzip der internationalen Gemeinschaft auf der Souveränität der Staaten. Das heisst nicht, dass diese Souveränität stets effektiv war oder dass sie nie verhöhnt wurde. Aber sie war im Zentrum der Konstellation. Heute scheinen die Dinge unvergleichlich schwammiger.

Die Globalisierung bildet sich im Wesentlichen gegen die Souveränität der Staaten heraus, was für sich nicht immer etwas Schlechtes ist. Der Umstand zum Beispiel, dass Kriegsverbrecher nicht mehr mit absoluter Straflosigkeit rechnen können, bedeutet einen unleugbaren Fortschritt. Auch dass es Bruchstücke eines universellen Umweltbewusstseins gibt, stellt einen Fortschritt dar.

Die Souveränität verschwindet deshalb noch nicht, und kein funktioneller Ersatz scheint rasch an ihre Stelle zu treten. Umso weniger, als der mächtigste der Staaten, die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht im Geringsten bereit scheint, auf die Logik der Souveränität mitsamt deren unilateralsten Aspekten zu verzichten, vor Augen nur ein Ziel: die Schande vom 11. September abzuwaschen.

Versäumte Einsicht

Der 11. September hätte vernünftigerweise der Auslöser einer globalen Bewusstseinsbildung mit dem Ziel sein müssen, eine Globalisierung zu meistern, die – im Norden und im Süden – viel privaten Reichtum, viele «öffentliche Übel» (Kriminalität, Prostitution, Drogen etc.) und immer weniger «öffentliche Güter» (Gesundheit, Ausbildung, Umwelt etc.) produziert. Zwei Wege scheinen in diese Richtung zu führen: erstens, Rehabilitierung des Staates als Produzent öffentlicher Güter; zweitens, grössere Multilateralisierung des globalen Spiels mit dem ausgesprochenen Ziel, bestimmte globale Ungleichgewichte ins Lot zu bringen.

Es wäre natürlich übertrieben und unrealistisch, auf eine derart einschneidende Umorientierung der Weltpolitik in so kurzer Zeit zu hoffen. Leider ist zu befürchten, dass solche Kurskorrekturen überhaupt wenig Realisierungschancen haben.

Nach einem Augenblick der Panik und Verwirrung ist die amerikanische Politik zu einer sehr imperialen Behandlung des Nach-September zurückgekehrt. Der unerwartet schnelle Zusammenbruch der Taliban hat ihr Interesse an der Bildung einer wirklichen Koalition auf null schrumpfen lassen.

Dazu hat man erlebt, wie europäische Mächte miteinander rivalisieren, um ins amerikanische Spiel einbezogen zu werden, und dabei die eine oder andere Demütigung zu vergessen bereit sind. Die der Franzosen zum Beispiel, denen gegenüber die Amerikaner sehr misstrauisch bleiben, vor allem wenn es darum geht, als Gegenleistung für französisches Engagement sensible Informationen zu teilen. Dann die der Deutschen, die das Gespenst einer Lenkung der afghanischen Normalisierung durch einen Sicherheitsrat auftauchen sehen, dessen ständiges Mitglied sie nicht sind.

Unter diesen Bedingungen kann ein Faktor nicht ausgeschlossen werden, der die Zukunft der globalen Regulation schwer beeinträchtigt: Die Vereinigten Staaten sind nicht im Geringsten bereit, ihre Weltsicht nach dem 11. September zu modifizieren. Denn im Hinblick auf die grossen multilateralen Projekte ist ihre Unbeweglichkeit ebenso gross wie vor dem 11. September.

Belegt wird das durch die Aufkündigung des ABM-Vertrags mit Russland, die den Weg zum Aufbau des Raketenschutzschirms freimacht, die Nabelschau bei der Umweltkonferenz von Marrakesch, die Politik des leeren Stuhls bei der Konferenz über den Atomwaffensperrvertrag und ihre Opposition gegen die Umsetzung des Abkommens über biologische Waffen.

Noch schwerer wiegt ihre Weigerung, bei der Regelung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern zu intervenieren, eine Weigerung, die de facto darauf hinausläuft, die Politik Israels abzusegnen, während nur eine Regelung dieses Konflikts eine internationale Entspannung in Gang setzen kann. Beunruhigender noch sind die Risiken einer Ausdehnung der Kriegslogik auf den Irak. Der einzige Bereich, in dem die Vereinigten Staaten das multilaterale Spiel mitzuspielen scheinen, ist der Handel. Der relative Erfolg von Doha hat jedoch nichts mit dem 11. September zu tun.

Schleudergefahr

Nach dem 11. September war häufig von der Rehabilitierung des Staates die Rede. Manche vorwitzigen Kommentare sprachen vom 11. September sogar als von einem «Tschernobyl des Neoliberalismus». Solch politischer Lyrismus erscheint surrealistisch, so sehr verkennt er die amerikanische Realität. Die Vereinigten Staaten haben wahrlich nicht den 11. September abgewartet, um ihre Interessen als Handelsmacht von denen der Staatsmacht abzukoppeln.

Der dogmatischste der amerikanischen Präsidenten, Ronald Reagan, war gleichzeitig der keynesianischste, als es darum ging, das Star-Wars-Programm gegen die UdSSR ins Werk zu setzen. Die Vermehrung der Rufe nach dem Staat ist weder neu noch ideologisch. Ganz im Gegenteil, die Rufe nach dem Staat, vor allem im Bereich der Sicherheit, sind Teil der klassischen Logik der Privatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der Verluste.

Darüber hinaus sieht man zu, wie Massnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft heute wie früher auf Steuersenkungen beruhen, die die Schichten mit hohem Einkommen begünstigen.

In Wahrheit ist es nicht ausgeschlossen, dass wir nach dem 11. September nicht einen Einschnitt und noch weniger einen Kurswechsel erleben, sondern die Verschärfung einer Situation, die eine Wiederbelebung des klassischen Machtkampfs zwischen Grossmächten, zu denen China und Russland gehören, und gleichzeitig die Entwicklung transnationaler ökonomischer, sozialer und kultureller Dynamiken, allerdings mit einem toten Winkel im globalen System: dem der multilateralen Regulierung. Das wäre selbstverständlich die schlechteste aller Konsequenzen für das globale Gleichgewicht.

*Forscher am Centre d’Etudes et de Recherches Internationales in Paris. Übersetzung aus dem Französischen: Lothar Baier.

Die Position von Benjamin R. Barber.