Blutige Tage in Palästina: Diese Enge, diese Armut, diese Wut: Kein Aufstand fällt vom Himmel

Genug. Die Leute haben einfach genug von allem. Nach sieben Jahren der ständigen Versuche, in Frieden zu leben, sich zu arrangieren, ein normales Leben zu leben. Das war nicht möglich, nie in der ganzen Zeit der palästinensischen Selbstverwaltung unter israelischer Aufsicht. Bloss ständige Gängeleien, Schikanen, Demütigungen, Vertröstungen. Bei ständig zunehmender Armut. Das Leben unter israelischer Besatzung, regiert von Jassir Arafats korrupter Autonomiebehörde, ist unerträglich. Palästina erlebt einen kollektiven Wutausbruch von gewaltiger Stärke, von erschütternder Wucht.

Ein solcher Volksaufstand wäre Jassir Arafat des Öfteren gerade recht gekommen, des Öfteren drohte der palästinensische Präsident mit einer neuen Intifada. Um Druck zu machen, um besser verhandeln zu können. Auch die Islamisten der Hamas-Bewegung hofften immer wieder auf eine neue Intifada, um so Arafat unter Druck setzen zu können, um gar den nach Oslo benannten Verhandlungsprozess zu Fall zu bringen. Und die Linke hoffte sowieso. Doch es gelang ihnen allen nicht, den palästinensischen Zorn zu instrumentalisieren. Ein Volksaufstand ist kein taktisches Mittel.

Und nun kam Ariel Scharon, der rechtsextreme israelische Likud-Politiker. Eine zeitlich gut abgestimmte Aktion, nämlich sein provokativer Besuch auf dem Tempelberg in der Altstadt von Al Quds/Jerusalem, und schon geht es wieder los. Doch so einfach ist es nicht. Wer mit Steinen und Molotowcocktails eine hochgerüstete Armee angreift, die nicht zögert, ihre Waffen auch einzusetzen, tut das nicht einem feindlichen Politiker zum Gefallen. Wer mit grosser Verzweiflung im Protest das Leben riskiert, tut das nicht aus politischer Naivität.

Arafat ist gerade noch einmal davongekommen. Hätte er vor gut drei Monaten in Camp David ein endgültiges Friedensabkommen nach US-amerikanischen und israelischen Vorgaben unterschrieben, dann wäre seine Autonomiebehörde zum Ziel der Revolte geworden. Denn dann hätte er das Festschreiben der heutigen Zustände verschuldet. Und schon in den vergangenen Jahren kam es innerhalb Palästinas immer wieder zu heftigen Konflikten, doch alle Beteiligten waren besonnen genug, eine Eskalation zu vermeiden. Arafat gilt seit seiner Rückkehr von Camp David in Palästina wieder als standfest. DemonstrantInnen tragen auf den Demos wieder seine Bilder mit.

Die israelische Öffentlichkeit macht Arafat für die Revolte verantwortlich. Mit kaum zu überbietendem Zynismus veröffentlichte die angesehene Zeitung «Ha'aretz» Legenden aus Armeequellen über ein angebliches Treffen Arafats mit Sicherheitsleuten und militanten Jugendlichen in Ramallah am Freitag, bei dem Arafat den andern klargemacht habe, dass es eine möglichst grosse Zahl von israelischen und palästinensischen Opfern brauche. Selbst die Proteste innerhalb Israels habe er angeordnet. Die israelische Nation formiert sich hinter der Armee, schon reflexhaft, da spielt es keine Rolle, dass Ehud Baraks Regierung kaum mehr eine Mehrheit hat. Die informelle grosse Koalition der Nationalen Einheit funktioniert in der Besatzungspolitik. Ein Likud-Regierungschef, ob er nun Scharon oder Benjamin Netanjahu heisst (welche Auswahl bietet sich doch den Likudmitgliedern für die Wahl ihres zukünftigen Parteichefs: der für die Massaker in den Lagern Sabra und Schatila 1982 verantwortliche Scharon oder der kleine Dieb Netanjahu), stünde heute für die gleiche Politik wie Barak. Der als Friedenspolitiker gewählte Barak trägt die politische Verantwortung für die Provokation Scharons; er hat sie zugelassen und gedeckt. Und als Oberkommandierender und ehemaliger Generalstabschef trägt er auch die Verantwortung dafür, dass die Armee – als Besatzungsmacht in besetzten Gebieten – mit Kampfhelikoptern, panzerbrechenden Raketen und scharfer Munition gegen militante Demonstrationen vorgeht. Er mag eine militärische Logik darin erkennen.

Die militärische Logik der letzten Tage führte zu einer grossen Zahl von Verletzten und Toten. Schon in den ersten fünf Tagen dieser Revolte starben fünfzig Menschen. Das ist fast ein Zehntel aller Todesopfer während der Intifada, die von 1987 bis 1991 dauerte.

Das Flickwerk der Übergangs- und Folgeabkommen von Oslo zerfleddert jetzt völlig. Praktisch jedes Problem, das übergangen oder verschoben wurde, bricht jetzt neu auf. Die zu Festungen ausgebauten israelischen Siedlungen in der West Bank und im Gaza-Streifen; Jerusalem; religiöse Heiligtümer; Verkehrswege – überall sind jetzt Fronten, überall brennt es. Auch die Flüchtlinge ausserhalb Palästinas fordern weiterhin ihre Rechte. In den Lagern in Jordanien, Syrien und Libanon kam es zu grossen Demonstrationen.

Die Revolte setzt auch in den Abkommen festgeschriebene Sicherheitsmechanismen ausser Kraft. Die schlecht bewaffnete palästinensische Polizei, die doch eigentlich ein Puffer zwischen PalästinenserInnen und israelischer Armee bilden sollte, die direkte Konfrontationen vermeiden sollte, nahm ihre Aufgabe nicht mehr wahr. Manche dieser Hilfspolizisten richteten ihre Waffen gar gegen die israelische Armee. Arafat, von den Ereignissen überrollt wie alle andern, ordnete laut islamistischen Quellen in Hebron sogar die Entwaffnung seiner eigenen Polizei an, um weitere bewaffnete Auseinandersetzungen zu vermeiden.

Und die Revolte lehnt sich unausgesprochen auch gegen die allen bisherigen Abkommen zu Grunde liegende Idee auf: die Teilung des Landes Palästina in zwei Staaten, einen für Juden und Jüdinnen und einen für Palästinenser und Palästinenserinnen. Die PalästinenserInnen mit israelischem Pass, die sich am Aufstand beteiligten, wandten sich mit ihren militanten Protesten in den arabischen Städten und Dörfern innerhalb Israels gegen all die Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sind. Israelis und PalästinenserInnen leben auf dem gleichen Stück Land. Alles, was ihnen fehlt, sind gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten, ein freies Leben zu leben.