Chronik einer Eskalation: Perfekt gedealt

Die Polizei hat die Anti-Wef-Demo in Davos verhindert – dank «Missverständnissen» in Fideris.

Bei so vielen JournalistInnen, die in Fideris waren, bin ich – gelinde gesagt – erstaunt über die Presseberichte von Sonntag und Montag», sagt Rechtsanwalt Peter Nideröst. «Mindestens unvollständig, teilweise ganz falsch», lautet sein Urteil. Nideröst war am Samstag mit einer eigenständigen Beobachtungsdelegation der Demokratischen JuristInnen Schweiz (DJS) vor Ort.
Was also geschah dort wirklich? Um 9 Uhr treffen die acht linken JuristInnen in Fideris ein. Die Züge aus Landquart halten an einem eigens gebauten Perron. Über mehrere Treppen geht es hinunter auf einen eingezäunten Platz, der nur durch ein Zelt verlassen werden kann. Wer nach Davos will, muss durch die darin aufgebauten Gitter, an deren Ende Angestellte der Zürcher Flughafenpolizei die DemonstrantInnen auf «gefährliche» Gegenstände untersuchen. Dahinter sollen jene Leute aussortiert werden, die nicht nach Davos dürfen. Gianfranco Albertini, Kripo-Chef und Einsatzleiter in Fideris, erklärt auf Niderösts Nachfrage, auf der schwarzen Liste stünden nicht nur Vorbestrafte, sondern auch Leute, die bloss mehrfach «polizeilich erfasst» seien.
Kurz nach 10 Uhr passieren SP-Präsidentin Christiane Brunner und Generalsekretär Reto Gamma die Schleusen – erwartungsgemäss ohne eigentliche Kontrolle. Um 10.39 Uhr kommt der dritte Zug. Dessen PassagierInnen melden sich per Megafon: «Wir sind die Delegation des Oltner Bündnisses. Wir steigen nicht aus.» Man gehe nicht durch die Kontrollen, sondern verlange ungehinderten Zugang nach Davos. Kurz darauf treffen auch Busse der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) vor dem Gelände ein. Die GewerkschafterInnen, darunter auch Smuv-Vizesekretär André Daguet, begeben sich auf die Strasse und auf den Bahndamm. Sie solidarisieren sich mit der Forderung des Bündnisses. Es beginnt eine lange Verhandlung, zu der um 11.25 Uhr auch der Davoser Landrat Hans Peter Michel, der offizielle Vermittler der Behörden, hinzustösst. Einsatzleiter Albertini gibt nach: Die Kontrollen könnten auch auf den Treppen erfolgen, aber nicht im Zug. Das könne er seinen Leuten nicht zumuten.
Niderösts Kollegin Antigone Schobinger wendet sich daher direkt an den Chef der KontrolleurInnen, einen Herrn Geissbühler. Der erklärt, Gepäckkontrollen im Zug seien grundsätzlich kein Problem. Damit steht dem Kompromiss nichts mehr im Wege: keine Personenkontrollen, niemand wird von polizeilichen «Szenekennern» herausgepickt, Gepäckkontrollen gibt es nur im Zug.
Bevor die KontrolleurInnen den Zug besteigen, so bestätigt Daguet am Montag an einer Pressekonferenz der GBI, ist es Albertini, der vom Oltner Bündnis eine Zusage verlangt, dass sich auch die Leute in den nächsten Zügen an den Kompromiss halten. Ein zweites Mal will er nicht verhandeln. Die Bündnisleute telefonieren nach Landquart. Der Deal ist perfekt. Michel verkündet ihn per Megafon. Um 12.59 fährt der Zug los.
Zwanzig Minuten später orientiert Albertini die Medien und widerruft. Michel ist aufgebracht und zieht sich mit Albertini zur Diskussion zurück. Dass die Polizei wieder auf Kontrollen in den Schleusen besteht, ist längst klar, bevor der nächste Zug kurz nach 14 Uhr eintrifft. Die Entscheidung hat weder damit zu tun, dass er voll besetzt ist, noch dass angeblich der «schwarze Block» mitreist. Aus dem Führerhaus macht Michel eine Ansage: Er stehe zu seinem Wort, aber bei der Polizei habe es «Missverständnisse» gegeben. «Wenn Sie mir helfen wollen, dann steigen Sie aus dem Zug aus.» Die Gepäckkontrollen könnten dann auf dem Perron stattfinden. Zehn Minuten später wartet dort die Hälfte der Leute umsonst auf die KontrolleurInnen. Sprechchöre «Allez à l`emploi» («An die Arbeit») helfen genauso wenig wie die erneuten Verhandlungsversuche von Bündnissprecher Walter Angst, der inzwischen mit dem Auto in Fideris angekommen ist. Um 15.17 Uhr fährt der Zug mit den DemonstrantInnen nach Landquart zurück.
Niderösts juristische Wertung: «Es ging den Behörden um die Verhinderung der Demo und nicht um die Suche nach gefährlichen Gegenständen. Für Letzteres war das ganze Kontrolldispositiv weder erforderlich noch geeignet und damit von Anfang an unverhältnismässig.»