Das Buch des Vaters: Die Geliebte des Vaters

Urs Widmers neuer Roman ist ein artistisches Glanzstück und die komödiantische Inszenierung einer Tragödie.

Als er die fremde Frau mit den roten Lippen und den schwarzen Haaren nach Jahren zum zweiten Mal sieht, fragt er sie zuerst, ob sie ihn heirate – sie sagt Ja –, dann stellt er sich vor: «Karl!» So sind sie, Clara und Karl: Er ist impulsiv, verschroben und klug, Bohemien und Kommunist, Gymnasiallehrer und Kettenraucher, sprachbesessen, bibliophil, Übersetzer von Laufmetern grosser Literatur. Sie kommt aus gutem Haus, war zuerst jung und schön von Beruf und nach dem Börsencrash vom Oktober 1929 für den Dirigenten Edwin jahrelang Mädchen für alles im «Jungen Orchester». Sogar mit Béla Bartók war sie per du.

Nun spielen sich Karl und Clara die grosse Liebe vor, lieben sich, «auch die ganze nächste Nacht, und die übernächste und die darauf folgende». Der Sohn aus dieser Liebe ist der Ich-Erzähler der zwei neusten Romane von Urs Widmer, von «Der Geliebte der Mutter» (2000) und nun von «Das Buch des Vaters».

Janusköpfige Struktur

Selten haben Zeitungen die Rezensionen eines Romans so einhellig mit dem gleichen Fotosujet aufgemacht wie beim «Geliebten der Mutter»: Überall zeigte man den Jahrhundertmäzen und Roche-General Paul Sacher mit Adlerblick und Dirigentenstab. Denn das «Junge Orchester» im Roman war erkennbar Sachers 1926 gegründetes «Basler Kammerorchester», und er selber war in Edwin als Dirigent getreulich porträtiert und als Industrieller zum Maschinenfabrikanten verfremdet. Im neuen Roman erhält Edwin nun einen treffenden Nachnamen: Schimmel. So sicher Schimmel ein Hengst in vielen Betten ist, so sicher zeigte sich Sacher am liebsten mit einem weissen Foulard.

Was Urs Widmer versucht hat, kann nur als artistisches Glanzstück gelingen – oder es missrät vollständig: Er wählt im «Buch des Vaters» nicht nur die gleiche Erzählposition wie in «Der Geliebte der Mutter», er erzählt grundsätzlich auch den gleichen Stoff: das Leben seiner Eltern. Das Kunststück gelingt, weil Widmer die Parallelstellen nicht zu peinlichen Doubletten montiert, sondern dutzende von Namen und Motiven unter dem Gesetz einer neuen Idee so raffiniert zusammenpuzzelt, dass sich die Romane ergänzend verbinden, ohne sich zu verdoppeln: Sie bilden einerseits ein Ganzes, haben aber andererseits zwei vollgültig verschiedene Seiten, an denen man sich so schnell nicht satt liest.

In Karl ist der Vater des Autors porträtiert: Walter Widmer (1903-1965), zu dessen hundertstem Geburtstag im April 2003 die «Basler Zeitung» geschrieben hat, seine Vaterstadt habe ihm, «dem oft so Unbequemen, wenig Anerkennung gegönnt: Bei seiner Schüler- und Leserschaft bleibt er aber in bester Erinnerung als Übersetzer und Vermittler in mehrfacher Bedeutung.» (Aus eigener Leseerfahrung kann ich seine Übersetzung von Charles de Costers «Thyl Ulenspiegel» wärmstens empfehlen.)

Zwischen den Heiratsantrag und die ersten Liebesnächte von Clara und Karl montiert Widmer die ganze Kindheit und Jugendzeit seines Vaters: den «Initiationsmarsch» ins Heimatdorf in den Bergen, der das magische Bild einer ganzen Pubertät entwirft; die Studienzeit in Paris, die er mit dem «Doctor philosophiae» abschliesst; und den Weg zum Gymnasiallehrer, nachdem die akademische Karriere gescheitert ist.

Die Stadt, in der Karl nun mit seiner Familie lebt, ist ein zürcherisch aufgemotztes Basel mit See und Morgestraich, Casino und St. Peter. Hier führt er ein Doppelleben: An der Schule hat er den bildungsbürgerlichen Kanon zu vermitteln, am Feierabend ist er als Bohemien unterwegs. Als einer, der grundsätzlich keine Rechnungen bezahlt, ist er der gegebene Kassenwart der avantgardistischen Künstler-«Gruppe 33», deren Mitglieder Verbindungen haben zur Szene der Surrealisten in Paris und zu den Kommunisten der eigenen Stadt.

Liest man Widmers zwei Romane nur auf solche kulturgeschichtlichen und politischen Ereignisse hin, wird man ihnen allerdings nicht gerecht. Denn erzählt wird vor allem anderen die Geschichte von zwei Menschen, die sich ein Leben lang auf ihre Art lieben, obschon sie sich nicht eingestehen können, dass sie mit ihrer Liebe eigentlich je eine unerreichbare dritte Person meinen. Auf diese Pointe hin ist der Doppelroman angelegt.

Die Liebe zur Selbstzerstörung

Clara bleibt dem Dirigenten Edwin Schimmel, dem sie – bis zur aufgenötigten Abtreibung – zu Diensten ist, verfallen, auch nachdem die steinreiche Industriellentochter Tildi sie aus seinem Gedächtnis getilgt hat. Als Edwin und Bartók Clara 1940 nach einem Konzert auf der Strasse nicht mehr wiedererkennen wollen, sagt sie: «Ich kann nicht mehr!», und bricht zusammen. 1987 braucht sie diesen Satz noch einmal: in ihrer Abschiedsnotiz, bevor sie sich aus dem sechsten Stock des Altersheims stürzt. Zweifellos sagt eine kurzfristige Geliebte Karls ihm die schmerzliche Wahrheit: Als Edwin Tildi geheiratet habe, habe sich Clara «keine vier Wochen später den erstbesten Mann» genommen. Das hätten damals alle gewusst.

Aber auch Clara war für Karl nicht die erste Wahl, obschon er gewusst haben will, «die oder keine». Unter diesem Wissen zersetzt sich ein Gefühl langsam zu Lebensgift. Karls Leben ist eine Kerze, die an beiden Enden brennt. Mit vier Päckchen blauer Gauloises täglich und mit nierenschädigenden Schmerztabletten bringt er sich zügig um. Das grosse Geheimnis seines Lebens, nämlich wer die Frau ist, die ihn in den Tagen seines Initiationsmarschs zum Mann gemacht und in ihm eine unstillbare Sehnsucht geweckt hat, erfährt er erst Stunden vor seinem Tod. «Ich weiss jetzt, wie sie heisst», schreibt er noch in sein Tagebuch, bevor er im Bad tot zusammenbricht. Clara interessiert diese Notiz nicht. Sie wirft tags darauf «Das Buch des Vaters» ungelesen zum anderen Papiermüll ihres Manns.

Aus Fiktion, autobiografischem Material und Zeitgeschichte hat Urs Widmer eine Familiengeschichte gebaut, deren Fundament eine doppelte Lebenslüge ist. Dass ihm gelungen ist, diese Tragödie als komödiantisch luzides Sprach-Spiel zum nicht alltäglichen Lesevergnügen zu gestalten, ist ein Stück bewundernswürdiger Schriftstellerei.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters. Diogenes-Verlag. Zürich 2004. 208 Seiten. Fr. 35.90