Davos: Ist das Wef 2002 am Ende?: Von Wanzen erledigt

Kippen die Zürcher Polizeivorsteherin oder das Bündner Parlament das World Economic Forum 2002?

Tote Feinde sind so herzzerbrechend wie eine vergangene Liebe. Noch im Januar war Davos eine besetzte Stadt: Stacheldraht, Hubschrauber, Militär, Polizei, JournalistInnen, AnarchistInnen, Limousinen, ein irres Spektakel. Das Kongresszentrum war der Treffpunkt von Staatschefs, Lobbyisten und Wirtschaftsführern mit zusammen über 6 000 000 000 000 Franken Umsatz: das schwerstbewachte Gebäude Europas. Ohne Einladung hätte man zumindest ein paar Panzer gebraucht.

Und nun: Sonne, leere Strassen, man erreicht das Kongresszentrum zu Fuss. So also sieht der Treffpunkt des internationalen Kapitals aus: viel Sichtbeton, eine gewellte, cremefarbene Decke – wie ein gerade geputztes, noch ungeflutetes Hallenbad, in dem jemand weiss gedeckte Apérotischchen aufgebaut hat.

Es ist der Herbst 2001, und das World Economic Forum, das 31. Jahrestreffen, weltweite Demonstrationen und harsche Sicherheitsdispositive überstanden hat, droht in sich zusammenzubrechen wie seine offizielle Fluggesellschaft, die Swissair, oder die Twin Towers. Bei den Kameraleuten, die seinem Gründer, Professor Klaus Schwab, wie Magneten folgten, war man sich nicht sicher: Handelte es sich um einen Schwarm Putzerfische oder um einen Schwarm Geier?

Dabei war das Informationstreffen des Wef für die Davoser Bevölkerung rein optisch ein Erfolg. 400 Davoser kamen. Landammann, Regierungsrat, Polizeichef, Experten begleiteten Schwab und seinen Direktor André Schneider demonstrativ aufs Podium. Nur ... aber dazu später.

Professor Schwab spricht

Einsamer Höhepunkt – «liebe Davoserinnen, liebe Davoser, ich darf Sie doch so nennen, bei meiner langen Verbundenheit mit Ihrem Ort» – war die Rede von Professor Schwab selbst, gehalten in hochdeutschem, grundfalschem Schweizerdeutsch.

Es war eine Rede voller Pathos, die davon handelte, dass nach dem 11. September die Welt nicht mehr die gleiche sei, dass nun dem Fundamentalismus fundamentale Werte entgegengehalten werden müssten, dass dies im World Economic Forum passiere, dass er, Schwab, der erste Globalisierungskritiker gewesen sei, also schon 1996 in der «International Herald Tribune» einen viel beachteteten und nachgedruckten Artikel veröffentlicht habe mit dem Inhalt, dass die Wirtschaft dem Volke dienen solle und nicht umgekehrt, dass das Wef – eine Organisation wie das Rote Kreuz – gerade heute einen einzigartigen Beitrag für den Frieden – auch wenn das Bombardement von Afghanistan vielleicht notwendig sei – leisten könne, dass auch (der nebenbei gesagt für Pinochet, Vietnam, Angola, Osttimor verantwortliche) Henry Kissinger ihm, Schwab, sofort nach den Anschlägen geschrieben habe, nichts sei nun gratis, jetzt müsse man für die Freiheit wieder kämpfen; dass das Wef diese Ansicht teile, dies durch Dialog tue und dass Freiheit Mut brauche, auch seitens von Ihnen, liebe Davoserinnen und Davoser.

Kurz, es war eine grossartige Rede, die Professor Schwab – bolzengerade, energisch und mit dem Gesicht eines beleidigten Eis – hielt. Sie begeisterte das Publikum, sie begeisterte auch die Reporter. Alles, was man von ihm kannte, war drin – etwa Schwabs gigantische Eitelkeit («Ich habe die Uno-Klimakonferenz von 1991 initiiert»), sein Knall, durch Missionarstum Wirtschaftsführer in kritische Philantropen zu verwandeln, sein damit verbundener Name-Dropping-Knall (von Kissinger bis Kofi Annan) und der wiederum damit verbundene Super-Knall, dass soziale Bewegungen durch Einzelpersonen repräsentierbar seien («Wissen Sie, meine Damen und Herren, dass hier, in dem Saal, in dem Sie hier jetzt sitzen, vor zwei Jahren der Direktor der Welthandelsorganisation, Michael Moore, und Lori Wallach, DIE FRAU, DIE HINTER DEN PROTESTEN VON SEATTLE STAND, miteinander diskutiert haben – vor vollem Saal!»)

Kurz: Propaganda, die sich vor allem Wef-intern angenehm verschwurbelnd ausgewirkt hatte. WoZ zu Wef-Direktor André Schneider: «Hat Professor Schwab wirklich die Klimakonferenz persönlich initiiert?» – Schneider: «Wissen Sie, Professor Schwab hat sehr viele Kontakte.» – «Aber so was kann man doch nicht allein anreissen.» – «Professor Schwab ist eine bedeutende Persönlichkeit. Er ist wie ein Vater zu uns.»

Noch ein Durchgeknallter

Der Applaus im Saal war warm und trog. «Man ist in Davos noch nie so kritisch gewesen dem Wef gegenüber», sagte der Mann der «Davoser Zeitung». «Und jetzt applaudiert man noch. Was man wirklich denkt, wird man in drei oder vier Tagen erfahren ...»
Tatsächlich war das Publikum gespalten. Später – bei Häppchen, Bier, Kaffee und Orangensaft – vermissten einige DavoserInnen einen Gegner auf dem Podium oder eine Volksabstimmung, monierten die Sicherheitsszenarien oder die «doch ziemlich abgehobene Eierkopfrede». Andere waren überzeugt. «Die Einstellung von Professor Schwab gegen die Globalisierung ist schon toll», sagte ein Prättigauer Gemeindepräsident. «Auch dass man dem Terrorismus nicht nachgeben darf, ist richtig. Obwohl ich mir heute Morgen überlegt habe, ob ich von dieser Veranstaltung lebend wieder zurückkomme …»

Die Paranoia hatte man – neben Usama Bin Laden – zu einem Gutteil dem Bündner Polizeikommandanten Markus Reinhardt zu verdanken. Dieser hielt zur Sicherheitslage von Davos ein trockenes, doch explosives Statement, dass man «neben den Demonstrationen mit Selbstmordanschlägen, Angriffen aus der Luft, B- und C-Waffen zu rechnen hat.»

Dieses Szenario liess fürs Erste eigentlich nur eine Erklärung zu: Die Polizei hat nicht das mindeste Interesse daran, sich noch einmal für das Wef die Beine in den Bauch zu stehen. Recherchen ergaben aber, dass diese Erklärung falsch ist. «B- und C-Waffen! Der Reinhardt, der spinnt», erklärte der Bündner SP-Parteipräsident Peter Peyer, «der will nur eine neue scharfe Polizeiverordnung.» FDP-Fraktionsführer Thomas Casanova bestätigte diese psychologische Interpretation: «Mit dem Polizeikommandanten Reinhardt hab ich schon Militär gemacht. Der ist etwas durchgeknallt.»

Der fehlende Gast

Wie oft in der Politik waren die Untertöne das Entscheidende: Während der Davoser Landammann Ernst Roffler bei Schwabs Rede stossgebetartig die Hände faltete, versank der SVP-Regierungsrat Klaus Huber – müde? gelangweilt? angeödet? – mit dem Gesicht hinter den eigenen Händen.

Hubers Rede war dann trocken und zwiespältig. Die Regierung stehe voll und ganz hinter dem Wef, sagte er und hängte eine ganze Latte von Abers an: Aber die Sicherheitslage müsse noch klarer sein, aber der Bund müsse zustimmen, aber die Demonstration müsse irgendwie stattfinden, aber der Grosse Rat müsse noch beraten, aber die Finanzierung müsse nach einem anderen Schlüssel verteilt werden.

Hubers «Wir sind beste Freunde, aber»-Rede passte gut zu einem erstaunlichen Trommelfeuer von Zweifeln, Einwänden und Schienbeintritten seitens der Bündner Regierung, der Polizei, aber auch des Bundes und nationaler, selbst bürgerlicher Parlamentarier. De facto steht das Wef trotz Teilnahme der tausend angeblich mächtigsten Global Leaders plus Unterstützung der Schweizer Regierung («Dieses Forum ist ein Segen», so Moritz Leuenberger) scharf auf der Kippe. Trifft eines der folgenden Ereignisse ein, ist es abgesagt.

1. Ein Njet der Bündner Regierung. Diese ist stockbürgerlich, aber weder unintelligent noch im Mindesten begeistert. Bei der ausgeprägten Wef-Skepsis spielen drei Faktoren eine Rolle: Die Sicherheitskosten sind von 280 000 Franken 1998 auf 10 Millionen für 2002 explodiert, wovon der strukturschwache Kanton Graubünden fünf Achtel trägt. Des Weiteren lässt sich ein Hochsicherheitsszenario 2002 nicht vermeiden: Belästigungen, Verletzungen der Grundrechte, mieses Image mit inbegriffen. Dazu kommt die unsichere Lage nach Genua, Zug und New York.
2. Der Grosse Rat kann in seiner Budgetdebatte Mitte November Nein sagen – aus denselben Gründen. Die Fronten gehen quer durch Parteien und Täler bis tief ins bürgerliche Lager hinein. Prognosen sind kaum möglich: «ein heisser Lauf», «die Fetzen werden fliegen», «auf Messers Schneide», «keine Ahnung, wie entschieden wird», so die Meinung von vier Grossräten verschiedener Parteien.
3. Die Stadtzürcher Polizeivorsteherin Esther Maurer kann absagen. Ironischerweise heisst der wichtigste Gast des World Economic Forum 2002 nicht Bill Gates, Arafat oder Powell, sondern «die Zürcher Stadtpolizei». Kommt sie nicht, fällt das Sicherheitsdispositiv in sich zusammen.

Und die Chancen stehen denkbar schlecht: Falls sich wie im letzten Jahr die Demonstration wieder in Zürich statt in Davos entlädt, ist Maurer wohl abgewählt. Auf Anfrage der WoZ sagte der Polizeisprecher Reto Casanova, der Stadtrat werde sicher nicht jetzt entscheiden, erst mal brauche es ein Bündner Sicherheitsdispositiv und einen Bündner Regierungsentscheid, und auch der Bund habe keine Lagebeurteilung abgeben können, und falls nur die kleinste Chance bestünde, dass sich die Ereignisse von Zürich vom letzten Jahr wiederholen könnten, würde man sicher keine Leute schicken ...

In dieser Lage bleibt dem Wef also nichts als Defensive und Demut: Parlamentariereinladungen zu Forum und Abendessen, das Versprechen, sich zum ersten Mal substanziell an den Sicherheitskosten zu beteiligen, das volle Bekenntnis zu Davos (nachdem man vor zwei Wochen noch mit der Abwanderung nach Kanada gedroht hatte), das In-Aussicht-Stellen von mehr Tickets für die Schweizer Presse ...

So also krachen Institutionen in sich zusammen. Jahrelang hielt das Wef glänzend und arrogant die Stellung. Selbst nach den bürgerkriegsähnlichen Polizeimassnahmen und den wilden Protesten der letzten Jahre wurde es (auch vom Schweizer Bundesrat) zu einem glänzenden Erfolg erklärt – und scheitert nun an den aus globaler Perspektive lächerlichen Budgetproblemen einer Kantonsregierung oder an den global noch unbedeutenderen Wiederwahlplänen einer protestantischen Polizeivorsteherin.
«Ich kämpfte mit den Tigern / ich entkam den Haien / erledigt wurde ich durch die Wanzen», schrieb Brecht einmal. Wie sich herausstellt, war das kein pessimistisches, sondern ein demokratisches und fröhliches Gedicht.