Die Angst der Soldaten im Irak: Logik der Befreiung

Am Freitagabend war ich unterwegs in die schiitische Stadt Nasirija, als plötzlich drei US-Soldaten vor unser Auto sprangen. «Anhalten! Anhalten!» schrie einer und fuchtelte mit seiner Pistole vor der Windschutzscheibe herum. Ich schrie dem Fahrer zu, er solle sofort anhalten. Der Fahrer hatte die Soldaten nicht gesehen – ich auch nicht. Von hinten tauchten jetzt noch zwei Soldaten auf. Mit ihren Gewehren zielten sie auf unser Auto. Ich zeigte unsere Ausweise. Der Offizier, mit einem dieser Schlapphüte in Tarnfarben, war höflich, aber kurz angebunden. «Sie hätten unseren Checkpoint eigentlich sehen müssen», schnarrte er, und: «Schönen Aufenthalt in Nasirija. Aber gehen Sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht nach draussen. Es ist nicht sicher.»

Ich glaube, er meinte, wenn es draussen dunkel ist, ist es nicht sicher für amerikanische Soldaten. Stunden später ging ich tatsächlich auf die Strassen Nasirijas. Ich besorgte mir einen Chicken-Burger. Die Irakis, die mich in einem heruntergekommenen Café bedienten, hätten nicht freundlicher sein können. Wie üblich entschuldigte man sich für die dreckigen Tische und den Mangel an Servietten. Dann war da noch das übliche schmutzige Viereck an der Wand, wo wohl bis vor zwei Monaten das Porträt Saddam Husseins gehangen hatte. Was war also los? Die «Befreier» betreten bereits den Dschungel der Besatzung, während sie in London und Washington noch immer von Sieg und Mut tönen.

Einige Stunden zuvor wollte mir in Nasirija ein Milizionär von Ahmed Dschalabi klar machen, dass die Amerikaner die Menschen demütigen. Sie hätten einen Mann gezwungen, vor seinen Freunden auf allen Vieren zu kriechen, nur weil die Gruppe den Soldaten nicht gehorchte. Wenn das so weitergehe, komme es zur Revolte, warnte er. Ich weiss nicht, ob die Geschichte stimmt. Jeder Schiite, mit dem ich mich in Nasirija unterhalten habe, sprach mit Wärme von den britischen Soldaten weiter im Süden. Aber etwas ist trotzdem furchtbar schief gelaufen. Selbst der Wärter des örtlichen Museums, den ich zuvor im Auto mitgenommen hatte, sagte, einziger Kriegsgrund sei das Öl gewesen. «Hundert Tage Saddam waren besser als ein Tag unter den Amerikanern», meinte er.

Ich bin nicht seiner Meinung. Schliesslich haben die US-Amerikaner die Schiiten nicht zu zehntausenden abgeschlachtet, so wie Saddam Hussein vor zwölf Jahren. Aber hier entsteht offensichtlich schon eine neue «Wahrheit». Washington kann eigentlich nur hoffen, dass das Beinhaus mit Leichen, das gerade weiter nördlich aus der Wüste gegraben wird, einen posthumen neuen Grund für den Konflikt liefert. «Jetzt kann man endlich die Wahrheit aussprechen ...» Wir kannten die Wahrheit schon längst – seit damals, als George Bush senior dieselben armen Menschen dazu aufrief, gegen Saddam zu kämpfen und sie dann einfach ihren Schlächtern überliess. «Saddam war eine Schande für den Irak», sagt mir ein Mann, als wir neben 400 Schädeln und Knochen in einer Schulhalle bei Hillah stehen. «Aber sterben lassen hat sie Amerika.»

Das frische Graffiti an einer Wand des Bagdader Slums «Sadr City» (vormals «Saddam City») erzählt seine eigene Geschichte: «Droht den Amerikanern mit Selbstmordattentaten», steht da lakonisch. Ich habe es am Mittwoch gesehen. Es ist nicht schwer zu erkennen, wie die Wut wächst. Die Strasse von Nasirija nach Bagdad ist nachts nicht mehr sicher. Räuber treiben auf den Schnellstrassen ihr Unwesen, und sie streifen durch die Strassen Bagdads. Eine seltsame Symmetrie: Unter den verhassten Taliban konnte man Tag und Nacht durch Afghanistan fahren. Jetzt kannst du dich bei Dunkelheit dort nicht mehr bewegen – es droht Raub, Vergewaltigung, Mord. So auch im Irak: Unter dem verhassten Saddam konnte man in weiten Teilen des Irak gefahrlos herumfahren, Tag und Nacht. Das ist nun vorbei. «Befreiung» made in USA ist zum Synonym für Anarchie geworden.

Dann ist da noch diese Palette von Tageszeitungen, die täglich auf Bagdads Trottoiren ausliegen. Die Zeitungen teilen ihren LeserInnen mit, wie viel die USA durch ihre Geschäfte am Krieg verdienen. Die irakischen Flughäfen werden versteigert, die Hafenmeisterei von Umm Kasr hat sich ein US-Unternehmen für 8,4 Millionen Dollar geschnappt. Ein Lobbyist dieses Unternehmens war ganz zufällig George Bushs stellvertretender Assistent, als Bush noch Gouverneur von Texas war. Auch Halliburton, zufällig die Firma, bei der Vizepräsident Dick Cheney arbeitete, hat umfangreiche Verträge abgeschlossen. Und die Verträge über den Wiederaufbau des Irak wird höchstwahrscheinlich der Gigant Bechtel absahnen. Die Firma Bechtel ist übrigens jene Firma, die Saddam Hussein früher einmal geholfen hat, eine Anlage zur Äthylen-Herstellung zu bauen; Äthylen wird für Senfgasproduktion benötigt. Der Wiederaufbau des Irak kostet vermutlich hundert Milliarden Dollar. Diesen Preis werden die Irakis selbst bezahlen müssen, aus ihren künftigen Öleinnahmen, die wiederum den US-Ölgesellschaften zugute kommen.

Den Irakis ist das alles bewusst. Was werden diese Leute wohl denken, wenn sie, so wie ich jetzt, an einer der grossen Schnellstrassen südlich und westlich von Bagdad stehen und die langen US-Militärkonvois vorbeiziehen sehen? Wenn ich mir die beängstigende Kontrolle der USA über diesen Teil der Welt ansehe sowie ihre Feuerkraft, ihre Stützpunkte und ihre Truppen überall in Europa, auf dem Balkan, in der Türkei, in Jordanien, Kuweit, im Irak, in Afghanistan, Usbekistan, Turkmenistan, Bahrain, Doha, Oman, Jemen und Israel, dann denke ich, es geht gar nicht nur ums Öl, sondern eben auch um globale Macht. Und wir sprechen hier von einem Staat, der tatsächlich Massenvernichtungswaffen besitzt. Kein Wunder, hat mich der Soldat davor gewarnt, nachts nach draussen zu gehen. Er hat Recht. Es ist hier nicht mehr sicher. Und es wird noch viel, viel schlimmer.