Die Bravour des Usama Bin Laden: Das erste Jahr

Die Neuordnung der Welt begann nicht am 11. September. Doch die Konturen werden klarer.

Zwei Stunden nach der Zerstörung des World Trade Center begann ich ein Porträt Usama Bin Ladens zu schreiben. Hunderte von JournalistInnen rund um den Globus taten an jenem Abend dasselbe. Einige hatten den Namen des Mannes, über den sie nun mörderische Gewissheiten verbreiteten, gerade zum ersten Mal gehört. Verlässliche, prüfbare Informationen, die Bin Laden mit dem Massaker von New York in Verbindung gebracht hätten, gab es nicht. (Bis heute verfügen wir nur über bruchstückhafte, zweifelhafte, späte Belege.) Bin Laden war der Täter, weil US-Präsident George Bush mit dem Finger auf den Saudi zeigte – vielleicht sogar wider besseres Wissen. Wir hauten in die Tasten. Einziges Problem schien noch die Frage, wie man ihn schreibe: Ben? Bin? Ibn? Gross oder klein?

Im Zweifel beschrieb ich Bin Laden als Chiffre für den ersehnten, den notwendigen, den besten Bösewicht. Wochen vor dem 11. September hatte ich auf dem Web seine Kriegserklärung an den Westen gelesen, weil mir ein Journalist der Kairoer Zeitung «Al-Ahram» von einem geplanten Angriff der USA auf Afghanistan erzählte. Typisch arabisches Gerücht, dachte ich. Als Bin Laden seine Epistel schrieb (1998), hatten ihn die Amerikaner schon zum Urheber aller Attentate stilisiert, die zuvor wahlweise dem ägyptischen Dschihad, Muammar al-Gaddafi, Sudans Hassan al-Turabi, dem syrischen Geheimdienst oder Teheran zugeschrieben wurden, vom ersten Attentat gegen das World Trade Center, 1993, über das Touristenmassaker in Luxor bis zu den Anschlägen auf US-Botschaften in Ostafrika. Der Westen neigt dazu, seine Feindbilder zu konzentrieren, in einer Person, einer Chiffre.

Arrangements und Vergissmeindoch

Später erfuhren wir Merkwürdiges. Es gab Schecks amerikanischer Banken für Al-Kaida-Kader, einen CIA-Besuch beim bettlägrigen Bin Laden, eine Konferenz zwischen Amerikanern und Taliban im Sommer 2001 in Berlin und einiges mehr. Der 11. September war nicht der Beginn einer Geschichte, er war deren Fortsetzung mit anderen Mitteln.

Doch der «Don Corleone des Terrors» («Newsweek») positionierte alle (ausser den Opfern). Vergessen ist seither die Vorgeschichte. Verdrängt Amerikas dunkles «Familiengeheimnis» (Arundhati Roy), die Rolle des Erdölclans Bush, dessen Geschäfte mit den Bin Ladens, Wahlkampfspenden aus Saudi-Arabien. Vom Tisch die Kritik an den vielen westlichen Interventionen in der arabischen Welt, an jahrzehntelanger Steuerung und Bewaffnung islamistischer Desperados durch die CIA und die Saudis (sie machen weiter: heute unterstützen sie Chinas Uiguren-Krieger), am Aufbau der Taliban durch Pakistans Geheimdienst auf Geheiss Washingtons.

Keine Verschwörungstheorien: banale Geopolitik und Geoökonomie. Irgendwann werden wir die Wahrheit darüber lesen, wie die USA den 11. September zum Anlass nahmen, ihren Zugriff auf Zentralasiens Öl zu sichern, in den Memoiren von Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice etwa, so wie Jimmy Carters Berater Zbignew Brzezinski unlängst enthüllte, wie er weder Mühe noch Geheimoperation scheute, um die Sowjets nach Afghanistan zu locken.

Bin Laden ist kein neuer Saladin, aber er gab seinen Part mit Bravour. Hätte er sich nicht mit so viel bösem Eifer im Spiel eingefunden, Präsident Bush hätte ihn erfinden müssen. Nun war nicht mehr die neue Weltordnung das Thema oder die Expansion der USA in Zentralasien.

Terrorismus- und Islamexperten, von denen mancher das Objekt seiner Studien nur vom Badeurlaub kennt, durften die TV-BürgerInnen mit Märchen von einer Islamistischen Internationalen terrorisieren. Neurechte Philosophen schürten den Kampf der Kulturen: «Wir sind die Soldaten der Zivilisation», schrie, hysterisch, Alain Finkielkraut, Herold des Pariser Prêt-à-penser.

Deutsche Publizisten installierten die neue Gedankenpolizei, angetan mit der schmucken Uniform empörter Betroffenheit: Allein schon die Erkundung, ob Terror möglicherweise auf Armut, Unterdrückung und Krieg gedeihe – ein Thema, über das sogar die Weltbank laut nachsinnt –, sei «feiges Denken», tönte stramm «Spiegel»-Feuilletonist Reinhard Moor. Also Fahnenflucht. Der Kampf um die Köpfe war entbrannt. In einem Aufwasch wurde da auch gleich noch die Skepsis an der entfesselten Globalisierung auf den Index gesetzt.

Ein Jahr danach ist einiges vollbracht. Die Taliban sind gestürzt. Usbekistan, Kirgisien, Tadschikistan und Afghanistan, Schlüsselländer für den Zugang zu Öl und Gas, sind mit US-Stützpunkten gesichert. Von Djakarta bis Bahrein sorgen US-amerikanische Spezialisten für die innere Ordnung. In Asien, Afrika und Lateinamerika wird unter dem Label «Krieg gegen den Terror» Opposition niedergehalten. Der Einmarsch im Irak ist programmiert, Iran als Schurkenstaat geächtet. Jetzt wird die Öffentlichkeit darauf vorbereitet, dass es bald auch den Saudis ans Eingemachte geht.

Lange verpönt, darf nun Krieg wieder geführt werden, trägt er nur die Etikette «gerechter Krieg», «Polizeiaktion» oder «präventiver Krieg». Generäle planen den Einsatz der Armee im Innern. Innenminister aller Couleurs setzten per Notstandsgesetze die Abrissbirne am Rechtsstaat an. In seinem Buch «Verdächtig» notiert Heribert Prantl, Politik-Chef der «Süddeutschen Zeitung», über die Novellen der rot-grünen Bundesregierung: Früher «konnte sich jeder durch sein Verhalten den Staat auf Distanz halten. Man nannte das: Rechtsstaat. Künftig muss ein Bürger beweisen, dass er nicht gefährlich ist. Für den neuen Staat der grossen Sicherheitspakete ist jeder Einzelne ein Risikofaktor.»

Der Weg in die autoritäre Gesellschaft

Da stellt sich unvermittelt der Gedanke ein, wir erlebten, mehr als eine Krise, einen Epochenbruch. Nüchtern betrachtet ist die Neuordnung der Welt nicht dem Anschlag auf die Zitadelle geschuldet. Der Umbau war längst im Gang. Er ist leidlich beschrieben: Der entfesselte Markt, global brutal, wachsende Einkommensunterschiede, schrumpfende Inseln des Wohlstands, die Entmachtung der Politik durch das Kapital, der Bruch des Gesellschaftsvertrages, der wankende Sozialstaat. Und: zerfallende Staaten in der armen Welt, Ethnisierung der Kriege, die USA als vorläufig letzte Supermacht.

Der 11. September, der Tag, als die wirkliche Welt, der Alltag der Menschen von Nairobi, Bujumbura, Algier, Gasa, Colombo oder Port-au-Prince, über den Westen kam, dieser Tag hat die Welt nicht verändert – doch unsere Wahrnehmung wurde genauer. Bin Laden, wenn er der Anstifter war, hat unsern Blick scharf gestellt.

Adieu, Unschuld jener, die sich in ihrem geschirmten Wohlstand sicher wähnten. Die Attacke machte dem Gerede vom Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) ein Ende. Mit dem Triumph des Marktes, so erkannten wir, siegt nicht automatisch die Demokratie – mag sein, dass sich die Sache sogar umgekehrt verhält: Die ungebremste Form der Globalisierung, eine brachiale Weltmaschine, produziert immer mehr Unsicherheit. Sie entzieht der Demokratie den Boden.

Kein geringes Paradox: Die Propaganda vom Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei trommelte auf allen Kanälen, da gewannen die Verhältnisse bei uns wieder deutlichere Konturen. Plötzlich sahen wir, wie die Veränderungen der Welt, die wir bisher nur einzeln wahrgenommen hatten, sich gegenseitig befördern, verstärken, beschleunigen: Sie bündeln sich zu einer geschichtsmächtigen Kraft, die das in 500 Jahren gewachsene Modell des europäischen Kapitalismus und seiner Zivilisation zerstört – gründlicher, als es alle islamistischen und rebellischen Kräfte dieser Welt im Verbund könnten.

Präsident Bush, Konzernchefs und andere Weltenlenker suchten, halb die neuen Verhältnisse antreibend, halb von ihnen getrieben, die Gunst der Stunde zu nutzen. Die «No Global» seien erledigt, Geschichte, Schnee von gestern, freuten sich die Blätter der Wallstreet am Tag nach der Einrichtung des Büros für Homeland Security. Das Büro sollte eigentlich Terroristen bekämpfen. Ein autoritäres Regime lupfte da kurz den Rock.
So drängt sich eine kleine Ortsbestimmung auf, Marshall McLuhan im Kopf. 1951 notierte er: «Der irreführende Effekt von George Orwells ‘1984’ liegt darin, einen Stand der Dinge, der bereits existiert, in die Zukunft zu projizieren. Das zieht die Aufmerksamkeit von den gegenwärtigen Tatsachen ab.»

Wir sind längst unterwegs in eine autoritäre Gesellschaft, in eine «illiberale Demokratie» (Fareed Zakaria in «Foreign Affairs»), oder schlimmer, in einen neuen Totalitarismus. Das demokratische Prinzip ist nicht mehr das Fundament einer notwendigen Begrenzung der Macht – ganz im Gegenteil, schreibt Jean-Marie Guéhenno («Das Ende der Demokratie»): «Es wird, im Namen der Souveränität des Volkes, zur Rechtfertigung einer zusehends intoleranten Macht. Das wäre für die Demokratie tödlich.»

Von der Geschichte überholt

Anthony Giddens, Vater des «Dritten Weges» von Tony Blair, hatte auf die «endemischen totalitären Tendenzen im Spätkapitalismus» aufmerksam gemacht. Er setzt als Gegengift auf eine modernisierte Sozialdemokratie. Er übersieht: Die Sozialdemokratie ist tot, tot wie das europäische Modell des sozialen Ausgleichs, mögen Deutschlands oder Schwedens Sozis seinen Niedergang auch redlich verwalten. Vor drei Jahren stellten die Sozialdemokraten in elf von fünfzehn Ländern der Europäischen Union die Regierung, aber sie schufen nicht einmal eine verbindliche Sozialcharta. «Wir regieren zwar fast überall, aber wir sind nicht an der Macht», bekannte der frühere spanische Premier Felipe Gonzalez.

Europas Sozialdemokraten machten sich selbst historisch überflüssig, weil sie aufgaben, eine Gegenkraft zum Markt zu sein. Entziehen sich heute die globalisierten Konzerne den Gesellschaften, so tun sie dies zum Beispiel in Deutschland mithilfe einer rot-grünen Steuerreform – trotz Rekordgewinnen holen sie beim Staat Milliarden ab, bezahlen aber kaum Steuern. Arbeitsplätze vernichten sie ohnehin mehr, als sie schaffen. Darob sind Städte wie München und einzelne Bundesländer faktisch Bankrott gegangen.

Dass so etwas nur wie ein verwaltungstechnisches Detail ohne Zusammenhang erscheint, ist zwanzig Jahren harter Arbeit an unseren Köpfen durch tausende liberaler Thinktanks, Lobbys, Stiftungen geschuldet. Wir denken: Noch hält das soziale Netz, noch wird gewählt, noch handeln wir als freie BürgerInnen. Stimmt. Kommt der Tag, wo ein Le Pen, ein Fini, ein Haider, Blocher nach der Macht grapscht, bleibt Zeit für eine Gegenwehr.

Das verkennt die Essenz des Vorganges. Diese Revolution wird nicht am Fernsehen übertragen. Sie ist längst im Gang. Es wird keinen Marsch auf Rom geben, keinen Putsch in Bern, keine autoritäre Machtergreifung. Besser als Blocher und Co. besorgen Blair, Stoiber, Aznar, Berlusconi die Demontage. Doch auch sie vollziehen nur nach, was die Trennung von Ökonomie und Gesellschaft zerstört: Wo es keinen Ort mehr gibt, wo Politik zwischen den Interessen des Kapitals und den Interessen der Arbeit vermittelt, zerfällt die Gesellschaft, stirbt die Demokratie.

Darin steckt der historische Bruch: Während die globalisierten Eliten ihr Empire jenseits der Nationen und Staaten bauen, wird dem Staat eine neue Rolle zugewiesen. Er soll die BürgerInnen, die in keinem sozialen Kompromiss mehr eingebunden sind, ruhig halten.

Politiker und Journalistinnen drucksen um diesen Vorgang herum, spielen Normalität, kleiden die Dinge in vage Worte. Die BürgerInnen sind schon weiter, und der 11. September hat ihr Gefühl für die Unsicherheit geschärft. Sie hören, wenn etwa Schröder die hohe Arbeitslosigkeit mit der Macht des Marktes begründet: Politik kann nichts mehr ausrichten. Die Welt der Citoyens liegt in Stücken, die Biografien schlagen Haken, der Fortschrittsglaube ist gebrochen. Organisiert der Staat den Ausgleich nicht mehr, soll er wenigstens jene ausgrenzen, die noch weniger haben, soll er den Niedergang möglichst lange hinauszögern, soll er die Festung errichten. So findet sich mancher Europäer schon heute klaglos in einer autoritären Ordnung ein, die erst entsteht.