Islamismus: Politik mit anderen Mitteln?: Alte Zöpfe, neue Bärte

Geschichte und Quellen der islamischen Religion sollen die Gewalt des 11. September erklären. Dabei ist sie banal politischen Ursprungs.

Um die Spannungen und Missverständnisse in den Beziehungen des Westens mit der islamischen Welt erklären zu können, braucht der Westen lediglich seine Gegner als «Islamisten» zu bezeichnen. Sogleich können die Gehirne abgeschaltet werden. Die Herrschaft der Affekte beginnt. Es schlägt die Stunde von Experten in «Kriminologie», denen das Privileg zukommt, die Funktionsweise eines ganzen Teils der Welt zu erklären. Es ist unerheblich, dass diese seltsamen Experten eigentlich fast nichts wissen – weder von der Sprache und der Geschichte der betroffenen Gesellschaften noch von ihrer Kultur. Der unverwüstliche Verweis auf den «Islamismus» reicht aus, um ihre Ignoranz oder ihre Verachtung für die komplexen Motive der anwachsenden Gewalt wettzumachen. Das ist freilich recht gefährlich: Es verhindert, zu verstehen, aus eben welcher Verkettung von Umständen es herauszukommen gilt.

Der seit dem Fall der Berliner Mauer wiedervereinte Westen beschränkt sich nicht darauf, das Gewaltpotenzial der aufstrebenden islamistischen Generation zu brandmarken: Er trägt vor allem dazu bei, es zu erzeugen, zu schüren und zu verstärken. «Wie die Islamisten die Demokratien in den Krieg treiben werden», titelte schon 1996 ein auf den «Kampf gegen den Integrismus» scharfes französisches Magazin. Doch wer treibt heute wirklich wen?

Tatsächlich sind die islamistischen Strömungen in ihren Handlungsweisen überwiegend auf sehr direkte Art und Weise durch die Handlungen ihrer – lokalen oder internationalen – politischen «Gegenüber» «angeregt» worden. Als Opposition haben sie sich in den in jedem Staat spezifischen Auseinandersetzungen meist an die Gewalt der von ihnen bekämpften Regimes angepasst. Sobald aber das parlamentarische Leben zum Bereich des politisch Möglichen gehörte (etwa in Jordanien, Jemen, Libanon, Kuweit), haben sie sich ohne grösseren Schock für das System hineingefügt. Im Palästinakonflikt oder in der Nord-Süd-Arena reagieren sie auch auf die dem bestehenden Herrschaftsverhältnis innewohnende Gewalt.

Kann man den «Islamismus» gegenwärtig allein auf einen religiösen Fundamentalismus reduzieren, der noch dazu der Laizität und den demokratischen Werten feindlich gegenübersteht?

Nehmen wir irgendein Interview von Usama Bin Laden, der heute als einer der gefährlichsten Islamisten gilt. Eine erste Bemerkung drängt sich auf: Die religiöse Rhetorik ist sehr wohl präsent («Dies widerspricht dem islamischen Gesetz», «Wie der Heilige Koran sagt ...»), doch die Forderungen und Bestrebungen der «Gottbesessenen» sind deutlich eher politischer denn religiöser Art: «Was wir den Regimes in Saudi-Arabien und auf der Arabischen Halbinsel vor allem vorwerfen, ist ihre Unterordnung unter die USA»; «Die gegenwärtigen Ölpreise (sind das Ergebnis) des Drucks der amerikanischen Administration auf Saudi-Arabien, um den Markt zu sättigen und die Preise zum Fallen zu bringen. Innerhalb von zehn Jahren haben die USA den Muslimen mehrere Milliarden Dollar gestohlen.» Schon mal gehört? Weiter: «In unseren Augen sind die USA für all die Opfer in Palästina, Libanon und Irak direkt verantwortlich. Die US-Regierung hat jegliches menschliche Gefühl abgelegt. Niemand hat sich über den Irak beklagt, als er chemische Waffen gegen den Iran einsetzte. Die Attentate sind Reaktionen auf diese Provokationen, um die amerikanischen Soldaten zu vertreiben, die sich voller Hochmut in ihrer Uniform in unserem Land bewegen, während unsere Akademiker im Gefängnis sitzen.»

Ist Usama Bin Laden wirklich nur ein «Gottbesessener»? In der arabischen und islamischen Welt sind alle islamistischen Strömungen durch ihren nationalen Kontext geprägt. Doch zugleich sind sie das Produkt einer gemeinsamen historischen Dynamik, die so neu nicht ist. Die Wiege des Islamismus ist nicht ein hypothetisches «Wiederaufleben des Religiösen», sondern lediglich die Neuformulierung der alten arabischen nationalistischen oder antiimperialistischen Dynamik mittels eines eigenen Wortschatzes. Der Wechsel in die «religiöse» Sprache erleichterte freilich die ethische Verurteilung des Westens, der weniger als christlich denn als entchristlicht und materialistisch wahrgenommen wird. Diese Sprache hat vor allem dem Bedürfnis der ehemals Kolonisierten entsprochen, sich vom Westen (wieder) zu unterscheiden – und weniger, sich von ihm loszusagen, wohlgemerkt. Diese Kontinuität wird in den Gründen sinnfällig, die eine Reihe von «nasseristischen» oder «baathistischen» Führern für ihre «Wiederbekehrung» zur religiösen Gedankenwelt anführen: Nach und nach erschien ihnen das der ererbten muslimischen Kultur eigene Vokabular geeigneter als die aus dem Marxismus übernommenen Konzepte (von denen zuvor die arabische Linke geleitet wurde), um ihrem nationalistischen Eifer Ausdruck zu verleihen.

Diese «Genealogie» des Islamismus macht es leichter, zu verstehen, warum das Wiederaufleben der Kategorien der islamischen Kultur nicht ein Projekt, sondern eine unendliche Vielfalt von politischen Projekten genährt hat. Mit dem Sieg von Präsident Mohammed Chatami 1997 im Iran und der Erneuerung seiner parlamentarischen Mehrheit hat die von Khomeini begründete «theokratische Diktatur» immerhin zum ersten glaubhaften politischen Machtwechsel geführt, der in dieser Region der Welt den Wahlurnen entsprungen ist – Lichtjahre entfernt von der Praxis all jener «modernistischen» Generäle, die die Geschicke von «laizistischen» Ländern wie Algerien, Ägypten oder Tunesien lenken. In der Sphäre der Beziehungen zwischen dem «jüdisch-christlichen» Norden und dem «muslimischen» Süden bestätigen diejenigen Gruppen, die sich seit Mitte der neunziger Jahre für die «direkte Aktion» entschieden haben, mit ihren Botschaften die Zentralität der «antiimperialistischen» Hypothese – doch wurde es oft unterlassen, ihren Inhalt öffentlich zu machen, aus Furcht, ihnen «in die Hände zu arbeiten», oder vielleicht auch, weil sie sich nicht immer angenehm anhören.

Ist man bereit, das primär nationalistische, antiimperialistische und identitäre Wesen des Islamismus zu berücksichtigen, ergibt sich daraus eine Reihe von analytischen und strategischen Folgerungen. Unbestreitbar wurde der religiöse Wortschatz zur Rechtfertigung von Gewalt benutzt, doch er ist nicht ihre Ursache. Ebenso wenig wie die IRA durch die Bibel zu «erklären» wäre, kann also Bin Laden durch den Koran erklärt werden. Die Islamkunde ist eine wichtige Wissenschaft, solange man sich davor hütet, sie zum Verständnis der banal politischen Erschütterungen der gegenwärtigen Welt zu bemühen.

Aber man wird das islamistische Phänomen auch nicht mit den für soziale oder politische Pathologien benutzten Analysekategorien und mit den Methoden ihrer «Behandlung» lesen und verstehen können. Allzu viele Analysen haben derartige Vereinfachungen vorgenommen und tun es mehr denn je. So hatten auch schon die ersten antikolonialen Kämpfe im Westen mehr emotionale als rationale Reaktionen hervorgerufen, die noch zuspitzend wirkten. Ganz zu schweigen davon, wie die ersten «Fellaghas», die algerischen Unabhängigkeitskämpfer, aufgenommen wurden. Und Gamal Abd el-Nasser, der es gewagt hatte, «unseren» Suezkanal zu nationalisieren, wurde mit Hitler verglichen und geriet 1956 ins Visier einer Koalition westlicher Armeen.

Eine ausschliesslich sozioökonomische Betrachtungsweise des islamistischen Phänomens ermöglicht es keinesfalls, seine wesentlichen Triebfedern aufzuzeigen. Einmal ist seine soziale Grundlage die Jugend, ein anderes Mal sind es die Benachteiligten, die Intellektuellen und das – fromme oder nicht fromme – Bürgertum; dann die Militärs und sogar feministische Aktivistinnen. Das aus Sicht der landläufigen Annahmen «überraschende» Profil der jüngsten Generation von Kamikazefliegern, deren berufliche und soziale Perspektiven alles andere als verstellt waren, hat dies ein weiteres Mal bestätigt.

Schliesslich hat man oft gemeint, dass jede sich des islamischen Wortschatzes bedienende Strömung unvereinbar mit dem Universellen in der westlichen Modernität sei. In Wirklichkeit ist die Haltung der islamistischen Strömungen auf diesem Gebiet veränderlich und nirgendwo monolithisch. Ihre wirklich «integristischen» Ränder haben es sich oft leicht gemacht und unterschiedslos den westlichen Beitrag zur sozialen oder politischen Modernisierung zurückgewiesen unter dem alleinigen Vorwand, dass dieser Beitrag während der «imperialistischen» Phase des Westens und in den Kategorien seiner Sprache erfolgte. Sie repräsentieren jedoch nur eine Minderheit. Die Werte der Moderne werden wohl weniger abgelehnt als vielmehr mit der Terminologie des islamischen Symbolsystems umgeschrieben. Dies trägt eher dazu bei, das Feld dieser Modernisierung zu erweitern, als deren Fortschreiten zu unterbrechen oder zu stören.

Die «Überideologisierung» reduziert die Wahrnehmung der islamistischen Mobilisierung auf ihre alleinige religiöse Dimension, während diese doch ganz unbestreitbar Forderungen transportiert, die in viel umfassender Weise kulturelle, aber auch politische (nationalistische, antiimperialistische oder sogar «demokratische») Forderungen sind. Zumindest einige der von der islamistischen Generation vorgebrachten Forderungen sind nicht illegitimer als jene, die seinerzeit (und ebenso gewaltsam) von ihren nationalistischen Vätern zum Ausdruck gebracht wurden.

François Burgat

Der Autor ist Direktor des Centre Français d’Etudes Yéménites in Sanaa. Die ist ein gekürzter Vorabdruck aus «Inamo» vom 10. September 2002. Übersetzung aus dem Französischen: Lutz Rogler.