«Isratin»: Bruder Gaddafi

In einem auf Deutsch bisher nicht veröffentlichten Vorschlag zur «endgültigen Lösung des Nahostproblems» übernimmt der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi Positionen israelischer Extremisten.

Wer möchte da noch widersprechen? Muammar al-Gaddafi, der libysche Revolutionsführer, löst das Nahostproblem. Wie, das hat Gaddafi in seinem jüngst in Arabisch erschienenen Büchlein «Isratin – Das weisse Buch» dargelegt. Isratin ist eine Verquickung von «Israel» und «Filastin» (arabisch für Palästina). Gaddafi weist in der Einleitung bescheiden darauf hin, dass «jeder von diesem Buch abweichende Vorschlag völlig ungeeignet» sei.

Doch wer Gaddafi bisher als Unterstützer militanter palästinensischer Gruppierungen kannte und annimmt, er propagiere den bewaffneten Kampf gegen Israel, liegt falsch. Er fordert implizit die Anerkennung des Staates Israel – auch wenn er weiterhin vom «so genannten Staat Israel» spricht. «Die Juden haben viel Unglück erlitten. Sie wurden von den Ägyptern, Römern, Engländern, Russen, Babyloniern, Kanaanitern und schliesslich von Hitler verfolgt, unterdrückt und massakriert», schreibt Gaddafi. Zwischen Arabern und Juden bestehe hingegen «keinerlei Feindseligkeit». Andererseits stellt er fest: «Die Unterdrückung der Juden ist Gottes Wille, wie er im Koran steht.» Differenzierteres bietet das «weisse Buch» nicht.

Gaddafi ruft Vorschläge aus den dreissiger Jahren in Erinnerung, die einen einzigen Staat Palästina für alle Bevölkerungsgruppen vorsahen. Ausserdem zitiert er pazifistische Stimmen der zionistischen Bewegung jener Zeit, die vor einer Teilung Palästinas warnten. Doch dann kommt er in deutliche Nähe zu den Positionen israelischer Extremisten. Denn er schlägt einen Bogen zu Äusserungen von Meir Amit, der als israelischer Militär (und, von Gaddafi unerwähnt, Mossad-Chef) die Gründung eines palästinensischen Staates als Gefahr für Israel verworfen habe. Zur «endgültigen historischen Lösung» macht sich Gaddafi die Ansichten weiterer israelischer Hardliner zu Eigen. Ein Brigadegeneral wird zitiert: Der Rückzug aus der Westbank sei eine unzumutbare Bedrohung Israels. Dazu komme nach Oberst Meir Bail ein «historisches» und «heiliges» israelisches Anrecht auf die Westbank.

Die Flucht der PalästinenserInnen aus ihrem Land im Jahre 1948 hält Gaddafi für eine Überreaktion. Es sei eine «unwahre Behauptung», dass Israelis gewaltsam PalästinenserInnen vertrieben hätten. Gaddafi bestreitet selbst das Massaker von Deir Jassin. Jene Zeit sei positiv zu beurteilen. «Denn es heisst, dass die Juden die Palästinenser nicht hassen. Sie wollen sie nicht aus Palästina verbannen und wollten sie nicht töten. In Wahrheit griffen die nicht-palästinensischen Araber Palästina an und erklärten den Juden den Krieg.»

Gaddafi rückt die Situation in ein geradezu romantisches Licht: Statt von israelischer Gewaltpolitik und palästinensischen Selbstmordanschlägen zu sprechen, behauptet er, Israelis und Palästinenser hätten sich mittlerweile gut aneinander gewöhnt und bereicherten sich gegenseitig. Und er zitiert einen als «Zionisten» bezeichneten Herrn: «Jedes Jahr rücken beide Bevölkerungsgruppen enger zusammen. Dies erfolgt durch die jüdische Besiedlung der Westbank und Gasas wie auch durch die immer stärkere Präsenz arabischer Arbeiter in Israel.» Man bleibt fassungslos zurück: Landraub durch Besiedlung, Ausbeutung durch Hungerlöhne, das soll Brüderlichkeit sein? Gaddafi erklärt den beiden Völkern, dass sie eigentlich Freunde sind. Sie bräuchten zum Glücklichsein nichts weiter als einen gemeinsamen Staat.

Gaddafi machte in jüngster Zeit als Mann des Wandels von sich reden: Libyen offenbarte sein Giftwaffenprogramm und setzt seit gut einem Jahr auf die Privatisierung der Staatswirtschaft. Der libysche Staatsterrorismus soll Vergangenheit sein. Die Anbiederung an den Westen erfährt zwar zuweilen Rückschläge, etwa wenn libysche Gerichte dubiose Todesurteile gegen im Land befindliche Europäer erlassen oder ein Komplott Gaddafis zur Ermordung des saudischen Kronprinzen auffliegt. Dennoch zeichnet sich eine reuige Linie gegenüber den USA ab.

Was treibt den schrulligen Autokraten, der 1973 im «grünen Buch» seine «dritte Universaltheorie» darlegte und Sozialismus und Rätedemokratie predigte? Gaddafi war seit seinem Machtantritt 1969 bestrebt, sich an die Spitze revolutionärer und antikolonialer Bewegungen weltweit zu stellen. Er stand für Panarabismus ebenso wie für Panafrikanismus, er unterstützte Guerillagruppen aller Kontinente und rief den «grossen sozialistischen libyschen arabischen Volksmassenstaat» aus.

Doch der Volksmassenstaat konnte sein wirtschaftliches Potenzial bisher wenig nutzen, vor allem wegen des Boykotts durch die USA. Dabei sind nicht nur im Ölsektor noch Milliarden von US-Dollar zu verdienen. Libyen will Industrien aufbauen und seine Einkommensquellen diversifizieren. Einer wachsenden und potenziell unzufriedenen Bevölkerung sollen Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten angeboten werden. Da all dies nur mit der Präsenz internationaler Investoren möglich sein wird, tut die libysche Führung alles, um ihnen das Engagement in Libyen zu versüssen.

Die neueste Schrift Gaddafis folgt auf Abhandlungen wie «Die definitive Lösung des Kaschmir-Problems», «Das Korea-Problem lösen» und «Die Türkei, Europa und Bin Laden». Die zahlreichen grammatischen Mängel im Arabischen zeigen, dass das Buch keine Redaktion durchlaufen hat. Welcher seiner Bediensteten sollte es auch wagen, die Schrift des Revolutionsführers zu korrigieren? In seinem Erlöserwahn behält der 62- jährige Gaddafi tröstlichen jugendlichen Schwung: «Man sollte nicht mehr auf die alte Garde hören. Sondern auf die Stimme der Jugend, der Generation der Globalisierung und der Zukunft.»