Kleine Bauanleitung, verfertigt nach neusten Praxiserfahrungen: Wie bastle ich mir moralisch einen Feind?

Eigentlich ist Moral ein alter Hut. Doch wenn es darum geht, ein Feindbild aufzubauen, wird sie plötzlich wieder salonfähig.

Wer davon lebt, dass er einen Feind bekämpft, hat ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt», schrieb Nietzsche in «Menschliches, Allzumenschliches». Liest George W. Bush, Ehemann einer Bibliothekarin, jetzt deutsche Philosophie? Das am vergangenen Montag über das Fernsehen verbreitete Ultimatum, das Saddam Hussein mitsamt Clan zum Emigrieren auffordert, liesse sich notfalls als Resultat philosophisch-pragmatischen Nachdenkens deuten. Von welchem Gebrauchswert, könnte man sich im Weissen Haus gefragt haben, wäre noch ein Saddam Hussein, der demnächst tot unter den Trümmern eines seiner von Cruise Missiles weggeblasenen Paläste liegt?

Auch mit Feinden, scheint man in Washington und anderen Hauptstädten begriffen zu haben, muss man haushälterisch umgehen. So viele davon gibt es heute nicht, und selbst welche herstellen ist kompliziert, aufwendig und teuer. Im Hinblick auf die Herstellung von Feinden war George W. Bush wahrscheinlich nicht gut beraten, als er kurz nach dem 11. September 2001 das inzwischen berühmte Wort in die Welt setzte: «Entweder ihr seid mit uns oder mit den Terroristen.» Kein guter Einstieg in ein Feind-«Narrativ», wie man das in der Fachsprache nennt. Denn auch wenn kein vernünftiger Mensch Terroristen um sich haben will, so fehlen Letzteren doch die Eigenschaften, die einen Feind unmissverständlich zum Feind machen: Benennbarkeit, Identifizierbarkeit oder eben jene Feind-Evidenz, die für den Staatsrechtler Carl Schmitt noch selbstverständlich war. Terroristen haben keine Adresse, an die man eine Kriegserklärung schicken kann, verfügen über kein Territorium, das sich bombardieren liesse und über kein bekanntes Führerhauptquartier.

Terroristen überall

Terroristen, so sieht es im Jahr 2003 aus, sind nirgendwo und gleichzeitig überall. Je weiter die Zeit seit dem 11. September 2001 fortschreitet, desto mehr scheinen die Terroristen sich in alle Richtungen zu zerstreuen und dadurch immer weniger feindfähig zu werden. Ein Beispiel: Lewis H. Lapham, der Chefredaktor des liberalen New Yorker Monatsmagazins «Harper’s», berichtet in seinem Editorial vom Februar 2003, dass er jüngst als «Terrorist» beschimpft wurde, weil er sich im Central Park eine Zigarette anzündete. Des Terrorismus verdächtigt werden in den USA Anfang dieses Jahres sogar Absolventen von Taucherschulen, da Sicherheitsexperten der US-Regierung zum Schluss gelangten, dass der nächste terroristische Angriff wahrscheinlich nicht mehr aus der Luft, sondern aus dem Wasser kommen werde.

Das Hauptopfer der Terroristen ist, will mir scheinen, nach den Menschen in den Twin Towers, der «Feind» gewesen. Deshalb hat die US-Regierung auch so viel Mühe aufwenden müssen, einen Ersatz für jenen Usama Bin Laden zu finden, der sich nicht einmal mehr am TV-Sender al-Dschasira zeigt. Saddam Hussein also, ein älteres Erbstück der Familie Bush, wurde als Feinddarsteller gecasted. Viel Neues über seinen Star hatte George W. nicht zu erzählen, die – mit US-amerikanischer logistischer Unterstützung – durch Giftgas getöteten irakischen Kurden hatte bereits Vater Bush aufgebraucht. Verfolgte irakische Schiiten bewegen das westliche Publikum nicht so furchtbar, dagegen waren Uno-Berichte, die von hunderttausenden an den Folgen des Uno-Embargos gestorbener irakischer Kinder sprachen, nicht zu verheimlichen gewesen. Der Tod im Irak war also nicht ausschliesslich Saddam-gemacht.

Um den irakischen Diktator glaubwürdig als Feind der restlichen Menschheit auftreten zu lassen, waren folglich weitere Operationen vonnöten. George W. Bush wird nicht müde, mit seinem texanischen Akzent die «weapons of mass destruction» zu beschwören, die Saddam trotz Uno-Inspektionen horte und produziere. Die von Woche zu Woche in Aussicht gestellten «Beweise» für die Einsatzbereitschaft irakischer Massenvernichtungswaffen sind nie vorgelegt worden. Womit ich nicht suggerieren will, dass es sie nicht gibt. Nur: Wenn solche Massenvernichtungswaffen schon ausreichen, einen Feind zu erzeugen, dann müssten auch das verbündete Pakistan, das etwas weniger verbündete Indien und das ausserordentlich verbündete Israel dem Lager des Feinds zugeschlagen werden. Dies ist aber nicht der Fall und kann aufgrund der gegebenen geostrategischen Lage auch nicht der Fall sein. Woraus folgt, dass zur Feindherstellung mehr vonnöten ist als der schlichte Nachweis, dass ein Land oder ein Regime solche Waffen besitzt und herstellt.

Entlarvung eines Lügners

Bei all den Redundanzen, die George W. Bushs Anti-Saddam-Hussein-Reden auszeichnen, fällt ein moralisch wertendes Element ins Auge, das die Beschuldigung, er führe ein diktatorisches Regime an, in den zweiten Rang verweist. Der dem «Schurkenstaat» Irak vorstehende Saddam Hussein hat sich, durften wir vom US-Präsidenten lernen, dadurch als einmaliger Schurke entlarvt, dass er schamlos lügt. Der von der Uno verlangte 12 000 Seiten starke irakische Report über die Waffenproduktion stecke voller Lügen – was durchaus sein kann. Der Lügner Saddam also. Auch jene acht europäischen Staats- und Regierungschefs, von Silvio Berlusconi bis Vaclav Havel, die sich von der US-Regierung zur Unterzeichnung einer vorgefertigten, danach im «Wall Street Journal» veröffentlichten Erklärung über eine amerikanisch-europäische Front bewegen liessen, unterstrichen «den fortdauernden und gut dokumentierten Hang Saddams zu lügen». Ein recht merkwürdiger politischer Vorwurf.

Denn im Raum der Politik sticht er nicht, weil er auf jeden Beliebigen zutreffen könnte. Ein Berufspolitiker, der nicht anständig zu lügen verstünde, hätte seinen Beruf verfehlt. Jeder massendemokratische Wahlkampf ist ein farbenprächtig inszeniertes Lügenfestival. Und alle wissen das. In Deutschland schlugen sich die Parteien wahlweise «Rentenlügen» und «Steuerlügen» um die Ohren. Sässe Saddam Hussein als Abgeordneter im deutschen Bundestag, würde ihm jetzt die «Massenvernichtungswaffen-Lüge» vorgehalten. Vom Stuhl würde das höchstwahrscheinlich niemanden reissen. Weshalb also wurde die «Lüge» zur Vorbereitung eines bewaffneten Angriffs auf den Irak so auffällig, sogar mit kleineuropäischem Nachschieben in Stellung gebracht?

Hochwertressource Moral

Erklärende Unterscheidungen sind vonnöten. Der Siegener Linguist Clemens Knobloch, der seit Jahren die Vorgänge auf dem Markt der moralischen Werte beobachtet und analysiert, besteht in seinem Aufsatz «Moralische Eskalation von Feindschaft» auf der strikten Unterscheidung der Sphären von «Kommunikationssystemen» und «Funktionssystemen». «Während Moral als Ressource in den Funktionssystemen der Gesellschaft eher zurücktritt, wird sie als Ressource in den Kommunikationssystemen unentbehrlich.» Als Funktionssysteme betrachtet, kennen unsere Gesellschaften keine ausschliesslich moralisch bewertbaren Rollen. Bösewichter, Feiglinge, Lügner, Geizhälse, Habgierige, Misanthropen zählen auf der Bühne, nicht aber im Business. Dort gibt es Kundinnen, Lieferanten, Konkurrentinnen, Verhandlungspartner. Bis Ende der achtziger Jahre galten auch die Irakis, als Öllieferanten ebenso umworben wie als Abnehmer von Hoch- und Waffentechnologie, als Angehörige dieses Kreises. Damit war es 1990, aus bekannten Gründen, vorbei. Die Irakis wurden zum Feind schlechthin. Ihren Führer Saddam Hussein verglich George Bush senior, unterstützt von Hans Magnus Enzensberger und anderen Moralproduzenten, mit Hitler.

Mehr als ein Jahrzehnt später bleibt das unter strikter Überwachung stehende und von Sanktionen betroffene Land aus der Welt der Funktionssysteme ausgeschlossen. Dafür sorgen jedoch nicht diese selbst – sie könnten es mit ihren Mitteln auch gar nicht –, sondern die öffentlichen Kommunikationssysteme. Wie gehen diese vor? Knobloch kennzeichnet die Problematik dieser Kommunikation folgendermassen: «Aus Kunden, Konkurrenten und Diskussionspartnern werden aber Feinde in der Tat nur dann, wenn sie unter höchsten moralischen Vorbehalt gestellt und damit gewissermassen aus der gemeinmenschlichen Wertewelt exkludiert sind.»

Moralische Kategorien sind nach dem Ende des Kalten Krieges als Mittel der Feindbestimmung aus nahe liegenden Gründen zu wachsender Bedeutung gelangt, da sich Konfliktsituationen nicht mehr, wie jahrzehntelang eingeübt, nach dem strategischen und ideologischen Ost-West-Muster einordnen liessen: entweder mit uns – oder mit den Roten. Woher aber die hohen Dosen Moral nehmen, die dann zwecks Feindbestimmung in die Kommunikationssysteme eingespeist werden müssen? Knobloch macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Moral in Teilen der öffentlichen Kommunikation eine auffallend schlechte Presse hat. Jemanden einen «Moralapostel» nennen kommt einer symbolischen Exekution nahe; die Lacher hat ein Redner sofort auf seiner Seite, wenn er sich über Leute amüsiert, die mit «entsicherten Moralpistolen» in der Tasche herumliefen. In Deutschland ist seit Jahren der «Gutmensch» zum allgemeinen Gespött geworden. «Moralisieren» gilt als verachtenswerte Operation, gegen die jede PR-Abteilung eines Biotech-Unternehmens ganze Pakete von «Diskurs»-Strategien entwickelt hat. Sich auf Moral zu berufen, funktioniert nicht und ist zudem unfein.

Doch Vorsicht, argumentiert der Linguist Knobloch: «Die Geschichten, die vor der ‘Moral’ warnen, sind selbst ‘moralische’ Geschichten. Der ‘moralische’ Sinn einschlägiger Warnungen besteht darin, dem nicht moralisch begründeten (oder nicht moralisch begründbaren) Machthandeln selbst eine höhere ethische Legitimation zu erteilen als dem moralisch begründeten. Man moralisiert den Unterschied zwischen ‘moralischen’ und aussermoralischen Haltungen, und zwar zugunsten der aussermoralischen. Dem kommt die einigermassen paradoxe Semantik moralischer Hochwertausdrücke ebenso entgegen wie die heutigentags allgemein abrufbare Erfahrung, dass öffentlich zur Schau gestellte Hochwertorientierungen oft den diskursiven Schutzschirm abgeben, hinter dem sich sehr viel profanere Macht- oder Geldinteressen verbergen können.»

Notwendige Ambivalenzreduktion

Knobloch hat seinen Aufsatz lange vor Beginn der US-amerikanischen Kampagne zur Vorbereitung eines bewaffneten Angriffs auf den Irak geschrieben; nichts könnte seine These besser illustrieren als die Inszenierung dieser Kampagne durch die Regierung Bush. Auf die Bühne gestellt wird ein archaischer Bösewicht, der Lügner und Betrüger Saddam, an dessen Entfernung aus der Gemeinschaft anständiger Menschen das Publikum das allerlebhafteste Interesse haben müsste. Gleichzeitig ist es für keinen Leser liberaler und kritischer US-amerikanischer Publikationen wie «Harper’s» oder «Tikkun» ein Geheimnis, dass es die irakischen Ölfelder sind, die die USA gegenwärtig weit mehr interessieren als die Befreiung des Universums vom Bösen. Doch: «Für einen massendemokratischen Krieg dürfte moralisch enthemmte Feindschaft die einzige zurzeit zustimmungsfähige Ressource sein, da Macht- und Wirtschaftsinteressen als Motive in der Öffentlichkeit nicht zugelassen sind.» Diese Motive sind zwar allen bekannt, werden in der öffentlichen Kommunikation aber nicht ausgesprochen, weil ihre Erwähnung den Hauptzweck der Kommunikation, die Herstellung von Eindeutigkeit, bedroht. Dazu vor allem wird Moral gebraucht, was man auch sonst gegen sie haben mag.

Arnold Gehlen sprach einst von der «Reduktion von Komplexität» als Bedingung gesellschaftlichen Verkehrs. Knobloch erweitert den Gedanken, Komplexität durch Ambivalenz ersetzend, um die psychologische Dimension: «Moralisierungen dienen der Ambivalenzreduktion (und sind damit parteibildend, insofern nämlich jede handlungsfähige Parteiung auf Ambivalenzreduktion angewiesen ist). Entmoralisierung eines Konflikts hat den Effekt, dass Ambivalenz wieder in ihr Recht tritt, wodurch die ‘moralisch’ geeinte Partei geschwächt wird (und die aussermoralisch geeinte gestärkt).» Wird es aus möglicherweise rein funktionalen Gründen wichtig, eine handlungsfähige, insbesondere kriegshandlungsfähige Partei zusammenzuhalten, gelangt das, was Knobloch «Hochwertmoral» nennt, als Fokus öffentlicher Kommunikation gerade auch «funktional» zu ausserordentlicher Bedeutung. Wie «moralisch enthemmte Feindschaft» hergestellt und aufrechterhalten wird, das ist im Lauf des letzten Jahres und Anfang dieses Jahres von den Kommunikatoren der US-Regierung geradezu exemplarisch vorgeführt worden.

In der vom Duce-Bewunderer Berlusconi, vom Exdissidenten Havel, vom dänischen Rechtspopulisten Rasmussen und anderen hervorragenden Menschen unterzeichneten «Wall Street Journal»-Erklärung heisst es: «Die Verbindung von Massenvernichtungswaffen und Terrorismus stellt eine Bedrohung von unermesslichen Konsequenzen dar. Wir sollten uns alle davon betroffen fühlen.» Wo wurde jene «Verbindung» geortet? Natürlich bei Saddam Hussein. Zum Vollschurken kann der Schurke Saddam Hussein demnach erst durch eine starke Beigabe Terrorismus gedopt werden. So kommt es mir vor, als wäre die ungeheure Bewegungsenergie, die am 11. September 2001 die gekaperten Boeings auf die Twin Towers und das Pentagon prallen liess, inzwischen unter dem Namen Terrorismus auf eine Weise umgewandelt worden, dass sie zum Antrieb einer ganzen Reihe anderer Aggregate tauglich wurde. Zum Beispiel zur Transformation des Regionaldiktators Saddam Hussein in eine Universalgefahr für die Menschheit.

Der Krieg, ein Film

Dennoch bleiben Fragen. Wie bringt man einen solchen Superfeind, dessen Bekämpfung einen milliardenteuren kommunikationellen, militärischen und logistischen Aufwand kostet und zweifellos zahlreiche zivile Opfer fordern wird, in einer westlichen Welt unter, in der nach den Worten Knoblochs «ethnischer Nationalismus verpönt ist, als archaisch und primitiv gilt, und Menschenrechts-Moralismus ebenso zur kurrenten Weltanschauung der ‘fortgeschrittenen’ Nationen gehört wie die öffentliche Ächtung von Gewalt und Terror? Wie erzeugt und eskaliert man Feindschaft in einer massendemokratischen ‘Szene’ mit diskursiv halbwegs durchgesetztem Multikulturalismus – der ja als Figur auch den rhetorischen Vorzug hat, seinen Vertretern die Ressourcen einer nicht überbietbaren universalistischen ‘Toleranz’ zuzuspielen, der gegenüber alle anderen Positionen als eng, partikular (und potenziell feindlich) codiert werden können?»

Clemens Knobloch hatte den Nato-Krieg gegen Serbien von 1999 im Auge, als er diesen Aufsatz schrieb. Vier Jahre danach scheinen sich einige der bei der Nato-Intervention gegen Serbien noch ergiebigen moralischen Ressourcen verbraucht zu haben. Obgleich der nun auch terroristisch aufgeladene Saddam Hussein als ein recht gefährlicher Feind gelten könnte, ziehen eine ganze Reihe von Nato-Ländern – Frankreich, Deutschland, Kanada usw. – nicht mit bei der von der US-Regierung ins Werk gesetzten Herstellung moralisch enthemmter Saddam-Feindschaft. Die Washingtoner Kommunikatoren haben sich das selbst zuzuschreiben. In ihrem fundamentalistischen Tran haben sie da etwas verwechselt. Sich an die Weltöffentlichkeit wendend, gebrauchten sie eine Sprache, als schrieben sie am Drehbuch eines für den US-Markt konzipierten Blockbusters. Bushs Kriegserklärung vom Montag könnte der Szenarist des Hollywood-Schinkens «Air Force One» verfasst haben. «Wir werden niemals verhandeln. Wir werden euch nicht länger tolerieren, und wir werden keine Angst mehr haben. Angst müsst ihr jetzt haben», schleudert dort der Filmpräsident den Filmterroristen entgegen.

Dies ist die für die WoZ gekürzte und bearbeitete Fassung eines Artikels, der in der Wiener Zeitschrift «Wespennest» im Juni 2003 erschien.