Michael Guggenheimer: Warten in Görlitz

Der Osten Deutschlands, das sind gewöhnlich Hiobsbotschaften: hohe Arbeitslosigkeit, Hartz IV, neue Montagsdemonstrationen. Selten nimmt sich jemand Zeit, genau hinzuschauen, so genau wie Michael Guggenheimer nun in «Görlitz». Zunächst erzählt er die Geschichte seiner Familie: Der Grossvater mütterlicherseits, ein wohlhabender Zahnarzt in der Stadt, war 1933 einer der ersten jüdischen Bürger, die Görlitz fluchtartig verliessen, er hat es nie wieder gesehen.

Guggenheimer wird zum Suchenden, nach einer Geschichte, aber auch nach einer Gegenwart und einer Zukunft. Er findet die Häuser, in denen seine Verwandten lebten und arbeiteten, aber er findet ebenso eine Stadt im Wartezustand, durch die eine Grenze verläuft, die das deutsche Görlitz vom polnischen Zgorzelec trennt. Eine einstmals zu den reichsten Gemeinden Deutschlands zählende Stadt, die heute unter Armut, Arbeitslosigkeit und Fluktuation leidet und trotzdem den Mut nicht aufgibt. Guggenheimer hat mit vielen gesprochen: mit denen, die trotz allen politischen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts dageblieben sind, mit anderen, die weggegangen sind, mit Leuten, die aus dem Westen kommen, und solchen, die es heute wegzieht.

Und er hat sich vieles angeschaut: Die Häuser, die renoviert sind und trotzdem leer stehen. Spazierwege, die in Brachen enden. Feste, hüben und drüben, während deren Mentalitäten aufeinander prallen. Restaurants und Speisezettel, Museen, Schwimmbäder, Hinterhöfe. Geglückte Initiativen, die neues Leben in die Stadt bringen, und Fehlinvestitionen, Fehlentscheide, die positive Entwicklungen im Keim ersticken. Kurz: Wer etwas über den Zustand des Ostens wissen will, wird in «Görlitz» viel finden.

Michael Guggenheimer: Görlitz: Schicht um Schicht, Spuren einer Zukunft. Lusatia Verlag. Bautzen 2004. 288 Seiten. Fr. 22.60