Misstrauisches Europa: Haddocks Welt

Wie aus dem Freiheitstraum der Polizeialbtraum wurde.

Erinnern Sie sich an Tim und Struppi? Der vom belgischen Comiczeichner Hergé erfundene Detektiv Tim (französisch: Tintin) spürte mit Instinkt und Verstand erfolgreich Kapitalverbrecher auf. Er brauchte dafür keinen Zugriff auf riesige Verdachtsdateien mit Millionen von unnötigen Personen- und Sachdaten, wie sie heute in irgendwelchen Schengen-, Visums- und Fingerabdruck-Fahndungscomputern gespeichert sind. Die Welt von Tim/Tintin war menschlich. Tim wäre gegen Schengen. Er fehlt uns in der Schengen-Debatte.

Ohne Tim erscheint die Welt wie durch die Brille seines bärtigen Freundes Kapitän Haddocks, der, stets misstrauisch, überall Komplotte vermutete. Auch die Welt von Schengen ist eine Welt der Misstrauischen. Haddock wäre unter ihnen wohl noch der sympathischste.

«Schengen» missbraucht die ursprünglich dahintersteckenden politischen Ideen und ist zudem ein Imageproblem für die gleichnamige luxemburgische Kleingemeinde. 1985, als Schengen als politischer Begriff Eingang in die Öffentlichkeit fand, stand er für Offenheit und Freiheit, für freien Grenzübertritt innerhalb der europäischen «Pionierstaaten».

Doch schon drei Jahre später, als das Moselschiff mit Politprominenz aus den fünf Schengen-Pionierstaaten in Remich bei Schengen landete, trübte sich die Stimmung. Die Polizeistaatler waren dabei, das Ruder zu übernehmen. Am 14. Juni 1988 beschlossen sie das Schengen-Zusatzübereinkommen SDÜ (Schengener Durchführungsübereinkommen), das die Schlagbäume öffnen und dafür das Landesinnere mit Spitzeln übersähen sollte. Zwei Jahre später trat es in Kraft. Seither kennen wir verdachtsunabhängige Kontrollen in der Bahn, am Dorfeingang, in der Stammkneipe, aber auch in der Kirche.

Siebzehn Jahre lang hatten die Polizeistaatler Zeit, um das Liberalisierungsprojekt «Schengen» komplett umzudeuten. Statt Einreisefreiheit mit Verbotsvorbehalt gilt heute ein Einreiseverbot mit Erlaubnisvorbehalt, statt Angst vor dem Überwachungsstaat hat sich heute der Ruf nach seinem weiteren Ausbau öffentlich durchgesetzt. Einfach ausgedrückt: Jedermann ist heute verdächtig, routinemässig soll er oder sie ständig überprüft werden wie ein Computer durch das Virenschutzprogramm. Und unverdächtig ist kein Schengen-Bürger mehr; er wird bloss täglich neu «auf Verdacht entlassen». Siebzehn Jahre: So schnell haben wir uns an Orwell und Huxley gewöhnt.

Ein einziges Bild sagt alles aus über das gewandelte Schengen: Das Bild von asylsuchenden Flüchtlingen mit Stacheldraht oder Handschellen. Damals zeigten wir es und warnten vor dem, was Schengen aus dem liberalen Bürgerstaat machen würde; die Behörden zeigten sich empört ob unserer «Unterstellungen». Heute werben dieselben Behörden vor denselben Bildern für Schengen.

Was damals noch offensichtlich Wählerstimmen kostete, soll sie heute garantieren: Stacheldraht, Härte, militärisches Abwehrdenken und neue Bespitzelung. Die Fichenaffäre war ein Abglanz dessen, was Artikel 99 des SDÜ heute in halb Europa erlaubt. Die Schweiz ist auch ohne SDÜ-Ratifizierung voll bei «Schengen» dabei.

Nur die SVP ist schon wieder einen Schritt weiter: Sie, die das Schengen-Gedankengut vertritt, braucht das «Schengen»-Label heute nicht mehr. Denn indirekt hat sie ihr Law-and-order-and-videocam-Schengen in der Schweiz verselbständigt und in der Praxis durchgesetzt. Für ihren politischen Erfolg kann es der SVP daher letztlich egal sein, ob am 5. Juni an den Urnen ein Ja oder ein Nein resultieren wird. Da die Schweiz faktisch längst bei Schengen dabei ist, bedeutet alles, was jetzt noch kommen wird, bloss zusätzliche und teure Schengen-Bürokratie.

So sagt zwar die SVP Nein zu Schengen und die SP Ja zu Schengen. Doch was solls, beide sind dabei beim neuen Spiel der sieben Millionen HilfspolizistInnen. Erinnern SVP und SP von weitem nicht an zwei unfreiwillige Hilfspolizisten von Tintin und Haddock: Schultze und Schulze?

Zum Autor

Beat Leuthardt ist Autor mehrerer Bücher zur «Festung Europa», zu Schengen und zum Überwachungsstaat. Er war am 14. Juni 1988 als einziger Schweizer in Schengen und mit dabei, als mit einer feierlichen Zeremonie auf dem Dreiländerschiff das Schengen-Zusatzübereinkommen ratifiziert wurde.

Im Visier

«‹Gring abe u seckle›, mag im Sport hinhauen. Bei Schengen und Dublin geht es aber um Personen­daten, Überwachung und Kon­trollen, um die ‹Festung Europa›, also um Ausgrenzung und Aus­schaffung. Heute sind die Migrant­Innen im Visier, morgen jene, die sich für Menschen-, Bürger-, Frauen- oder Gewerk­schaftsrechte einsetzen. ‹Gring abe u dure› – diese Taktik von SP und Grünen gefährdet jede solidarische und emanzipatorische Politik. Deshalb schlucke ich die Schengen-Kröte nicht!»
Urs Sekinger, Redaktionsmitglied «Widerspruch»