Palästina: Die alltäglichen Erniedrigungen: Die Selbstmordfabrik

Ich gehöre zu jenen Palästinensern, die eine Menge israelischer Freunde haben und die für einen grossen Teil ihrer Arbeit zwischen Ramallah, Jerusalem, Tel Aviv und Europa hin- und herreisen. Nennen Sie mich einen Liberalen oder einen Demokraten – ich ziehe Gemeinden und Gemeinschaften den nationalstaatlichen Grenzen vor. Ich glaube an die Kultur, und ich hasse Gewalt.

Ich hasse palästinensische Gewalt, so wie ich israelische Gewalt hasse. Ich bin einer jener Palästinenser, von denen man kaum etwas hört und denen schlecht wird von jeder Nachricht von einem Selbstmordattentat. Ich mochte das Café Momento, das am 9. März 2002 zerstört wurde, wie ich andere Cafés in Jerusalem mag. Ich bin einer der vielen Palästinenser, die Verhandlungen der Verweigerung vorziehen und die glauben, dass alle Menschen zusammen leben können. In grossen Städten leben Menschen zusammen, Schwarze, Weisse, Araber, Juden – sie leben zusammen an vielen Orten in dieser Welt und sie können auch hier zusammen leben. Wir brauchen nur die Umgebung einer grossen Stadt. Ich kann mir ein von Jerusalem getrenntes Ramallah nicht vorstellen und auch kein Ramallah, das abgeschnitten von Tel Aviv existiert. Ich kann mir auch nicht vorstellen, nach London reisen zu müssen, um all das zu erledigen, was ich in Tel Aviv erledigen könnte. Und ich kann mir nicht vorstellen, nicht nach Tel Aviv fahren zu können, um meine Freunde zu besuchen, an den Strand zu gehen und danach in Jaffa Sushi oder Fisch zu essen.

Ich gehöre zu den Menschen, die sich während der ganzen Aksa-Intifada eingeredet haben, dass es besser werden wird. Dass dieses Blutvergiessen nicht lange dauern kann. Dass Kriege heutzutage nur kurz dauern und darauf üblicherweise Frieden folgt. «Warts ab», sagen wir zueinander, «Es wird besser», «Verlass das Land noch nicht», «Wohin kann ich denn gehen?» – unsere Monologe sind getränkt mit Hoffnung oder vielleicht auch Überzeugung, dass es gar nicht schlimmer kommen kann.

Ich bin einer der Palästinenser, welche die berüchtigten zwanzig Minuten von Jerusalem nach Ramallah fast täglich zurücklegen müssen, da wir in beiden Städten leben. Und es sind nicht nur die Kugeln, die schmerzen; Erniedrigung und Diskriminierung können viel mehr Schaden anrichten als Helikopter und Panzer.

Ich habe diese Intifada deshalb bisher überlebt, weil mich meine Videokamera die ganze Zeit auf Trab gehalten hat. Ich habe ein Videotagebuch geführt. Ich filmte Helikopter, die Raketen abschossen, Demonstrationen und zerstörte Gebäude, junge Männer, die ihre Kalaschnikows wie Medaillen trugen, weinende Frauen und Kinder, die im Spiel Panzern nachjagten. Ich filmte nicht aus Vergnügen, sondern aus einem Gefühl der Unsicherheit. Die Kamera war ein Schutzschild, der mich von meiner Wirklichkeit trennte, der mich zu einem Status erhob, in dem ich mich nicht wie ein Opfer fühlte. Ich habe meine Kamera extra jedes Mal mitgenommen, wenn ich den Kalandia-Checkpoint passierte.

Am Vorabend des islamischen Feiertags al-Adha (23. Februar) nahm ich meine Kamera und machte mich auf den Weg. All die herausgeputzten Menschen mit hübsch verpackten Geschenken auf dem Weg zu Verwandten – «Das gibt doch ein gutes Bild», dachte ich. Die Hauptstrasse war gesperrt, und man musste auf eine schmutzige und staubige Strasse ausweichen – fünfzehn Minuten Fussmarsch. Ich sprach mit vielen dieser Männer und Frauen, fragte, wohin sie wollten, was sie fühlten und dachten. An einem anderen Tag nahm ich meine Kamera und mischte mich unter die Menge, die während Stunden an der Hauptstrasse verharrte, bis jede und jeder Einzelne endlich vom Soldaten aufgefordert wurde, die Jacke auszuziehen, Handtasche und Aktenkoffer zu öffnen, und dann erst gehen konnte. Ich filmte ihr Geflüster, ihre Kommentare, filmte, wie sie die Bewegungen des Soldaten beobachteten.

Einmal, als ich gerade wieder filmte, verbreitete sich die Nachricht von einem Selbstmordattentat in Jerusalem. Ich konnte hören, wie die Leute in der Warteschlange zueinander sagten: «Ich könnte der Nächste sein.» «Dieses Leben ist so elend, es wäre besser zu sterben.» «Schau, was sie uns antun, was erwarten sie denn?» In der Menge stand ein junger Mann, «M», mit Blumen und Süssigkeiten in den Händen. Als er meine Kamera bemerkte, kam er näher und sagte: «Filme uns, damit die ganze Welt sieht, was sie uns antun.»

«Wohin willst du?», fragte ich ihn. «Nach Jerusalem, zu meiner Verlobten.» «Wo arbeitest du?» «Ich bin Verkäufer bei einer Computerfirma», antwortete er und fügte wütend hinzu: «Auch ich bin aus Jerusalem, ich zahle Steuern wie die Juden, doch schau, wie die uns behandeln. Wir können so nicht mehr leben, sie töten uns nach und nach, Tag für Tag.» «Was hältst du vom Anschlag im Café?», fragte ich ihn unvermittelt. «Weisst du, ich habe so etwas nie unterstützt, aber jetzt, da ich in dieser Warteschlange stehe und jeden Tag durch diese Hölle gehe, ist es mir egal. Ich denke, sie verdienen es. Sie machen bei uns keine Unterschiede, warum sollten wir es bei ihnen tun. Ich fühle, dass sie mich jeden Tag ein Stück mehr zum Selbstmordattentat treiben. Glaub mir, wenn sie mich sowieso töten, dann will ich nicht alleine sterben, ich werde ein paar von ihnen mit mir nehmen.»

Liebe Israeli, ich sage euch, der Kalandia-Checkpoint und alles, was er verkörpert, ist eine Fabrik für Selbstmordattentäter. Selbstmordattentäter werden nicht in Moscheen oder warmen Häusern gemacht, nein, sie sind das Produkt eurer Armee und der Politik eurer Regierung, welche unterschiedslos die ganze Bevölkerung bestraft. Viele Menschen, die ein normales Leben führen, fern von jeglicher Gewalt, sind dieser Brutalität täglich ausgesetzt. So werden sie dazu getrieben, mit gleicher Brutalität zu antworten.

Dieser Text erreichte die WoZ-Redaktion am 25. März 2002.