Palästina/Israel: Käfighaltung palästinensischer Städte: Der antiterroristische Schutzwall

Israel macht vorwärts mit dem Trennungszaun zur palästinensischen Westbank. Der fünfzig Meter breite Streifen mit Stacheldraht, elektrisch geladenem Zaun und Armeestrasse schafft neue Fakten.

Dschamal Osman steht auf dem Dach seines Hauses in al-Dscharuschija und zeigt nach Westen – dorthin wo seine Olivenbäume stehen. Seit Generationen lebt seine Familie von ihnen. Doch jetzt sind sie für ihn nicht mehr erreichbar. Keine hundert Meter vom Haus entfernt zerschneidet ein Zaun die hügelige Landschaft und versperrt ihm den Zugang zu seinen Bäumen. Genau genommen ist es kein Zaun, sondern ein gut fünfzig Meter breiter Streifen, bestehend aus einigen Rollen Stacheldraht, einer Mauer aus grossen, aufeinander geschichteten Natursteinen, einem elektrisch geladenen Zaun mit Kameras und einer Strasse, auf der regelmässig die israelische Armee patrouilliert. Vor einigen Monaten hat Osman von der israelischen Armee einen Brief erhalten: Ein Teil seines Grundstückes müsse aus Sicherheitsgründen beschlagnahmt werden. Wenig später kamen die Bulldozer, seitdem ist ihm von seinem Land kaum mehr geblieben als sein Haus.

Es sei eine zeitlich begrenzte Massnahme zur Abwehr von Terrorismus, begründet das israelische Verteidigungsministerium die Landnahme. Faktisch bedeute die Beschlagnahmung die Annexion von Teilen der Westbank, sagen KritikerInnen wie Jeheskel Lein von Betselem, dem israelischen Zentrum für Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten. Lein zieht Parallelen zum israelischen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten: Auch das Land für die Siedlungen wurde für militärische Zwecke beschlagnahmt – und nie zurückgegeben. Aus der Beschlagnahmung ist längst Enteignung geworden. Daneben hat die schleichende Veränderung der Besitzverhältnisse noch ein anderes Gesicht: Viele palästinensische Bauern bestellen ihr Land nach osmanischem Gewohnheitsrecht, normalerweise ohne schriftliche Besitztitel. Liegt es drei Jahre lang brach, fällt es der Obrigkeit zu – also dem israelischen Staat.

«Land grab», der Griff nach Land, hat Lein seine Studie über die israelische Siedlungspolitik in der Westbank überschrieben. Die Bypass Roads, die für PalästinenserInnen kaum zugänglichen Schnellstrassen zu den jüdischen Siedlungen, sind der zweite Schritt des «land grab». Der Zaun ist der dritte.

Die Entscheidung für den Bau des Zaunes liegt rund fünfzehn Monate zurück. An Ostern vergangenen Jahres kam es in Israel fast täglich zu Selbstmordattentaten. Die Täter stammten überwiegend aus der Westbank. In diesem Klima beschloss das Parlament Mitte April den Bau einer dauerhaften Trennungsanlage, um dem Problem des Terrorismus besser Herr zu werden. Das Projekt war schon damals nicht neu: Die Idee eines Zaunes entlang der grünen Linie zur Westbank, also der Grenze Israels vor dem Krieg von 1967, hatten Politiker der Arbeitspartei bereits Jahre zuvor ins Gespräch gebracht. Sie hofften auf Sicherheit für Israel und waren dafür bereit, auf einen Grossteil der Westbank zu verzichten. Inzwischen aber ist in Israel eine rechtsnationale Koalition an der Regierung – mit anderen Vorstellungen von Israels rechtmässigen Grenzen.

Grosszügige Schlenker

Im August 2002 stimmt das israelische Kabinett dem Verlauf des ersten Teilstückes zu: 116 Kilometer. Zwanzig Kilometer davon werden im Norden und Süden Jerusalems gebaut, der Rest soll den Nordwesten der Westbank von Israel trennen. Wenig später ist dieses Stück um dreissig Kilometer länger geworden. Ein Blick auf die Karte verrät den Grund: Überall dort, wo sich in der Nähe der grünen Linie jüdische Siedlungen befinden, macht der Zaun einen grosszügigen Schlenker nach Osten. Der Yesha Council, die mächtige Lobby der SiedlerInnen in den besetzten Gebieten, hat durchgesetzt, dass die meisten Siedlungen auf der westlichen – israelischen – Seite des Zaunes liegen.
Doch der Zaun verläuft auch sonst oft nicht auf der grünen Linie, sondern einige Kilometer weiter östlich, obwohl sich dadurch einige palästinensische Dörfer auf der israelischen Seite des Zaunes befinden. Was aus Sicherheitsgründen widersinnig wirkt, leuchtet aus wirtschaftlicher Sicht ein: Auf dem Streifen östlich der grünen Linie befinden sich einige der wichtigsten Wasserquellen des Westjordanlandes. Rund achtzig Prozent der PalästinenserInnen leben hier von der Landwirtschaft – die Trennung vom Wasser bedeutet ihren Ruin. «Man muss sich», so Jeheskel Lein, «auch unter Sicherheitsgesichtspunkten fragen, ob der Zaun das von der Mehrheit der Israelis gewünschte Ziel erreicht.» Je stärker die PalästinenserInnen in eine perspektivlose Lage gedrängt werden, umso grösser werden die Bestrebungen sein, den Zaun irgendwie zu überwinden – sei es zur Arbeitssuche in Israel, sei es für militärische Aktionen und Attentate.

Abriegelung auch nach Osten

Schon jetzt sind nach Angaben von Betselem über 200'000 PalästinenserInnen vom Bau des Zaunes direkt betroffen: Sie können Schulen oder Krankenhäuser kaum noch erreichen, der Zugang zum eigenen Land bleibt ihnen oft ganz verwehrt. Die palästinensischen Autonomiestädte Tulkarem und Kalkilja, die direkt an der grünen Linie liegen, werden demnächst vollständig von einem Zaun umgeben sein – mit jeweils einem von Israel bewachten Tor. «Enklave» nennen das die einen, «Gefängnis» oder «Käfig» die anderen.

Und doch ist das alles nur der erste Teil eines viel umfangreicheren Komplexes: Die grösste israelische Tageszeitung, «Yediot Aharonot», hat vor kurzem eine Karte des gesamten Zaunsystems veröffentlicht, mit den Kategorien «geplant», «beschlossen» und «im Bau befindlich». Wesentliche Merkmale des Planes: Die meisten jüdischen Siedlungen werden an Israel angeschlossen. Und: Der Osten der Westbank, das fruchtbare Jordantal – ein etwa zwanzig Kilometer breiter Streifen – bleibt fast vollständig unter israelischer Kontrolle.

Übrig bleiben zwei Rumpfgebilde auf insgesamt vierzig bis fünfzig Prozent des Westjordanlandes. Nimmt man die zahlreichen Siedlerstrassen dazu, wird deutlich, warum KritikerInnen eher von südafrikanischen Bantustans als von einem Palästinenserstaat sprechen. Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon hat aus seiner Neugier für das Funktionieren des Apartheidregimes nie einen Hehl gemacht.

Wenn Scharon angesichts der Road Map neuerdings davon spricht, die Besetzung zu beenden, so geht es ihm nicht um die Räumung von Siedlungen, sondern um die Kosten der Besetzung. Israel befindet sich in einer Wirtschaftskrise, die Armee muss drastische Einschnitte hinnehmen. Die Kontrolle der PalästinenserInnen, so die Vorgabe der Road Map, sollen in Zukunft palästinensische Sicherheitskräfte übernehmen. Und nach israelischen Vorstellungen auch der Zaun. Für seine Errichtung muss Israel jedoch bezahlen: drei bis vier Millionen Franken pro Kilometer. Eine hohe Investition für eine zeitlich befristete Massnahme.