«Spielzeit Nummer zwölf»: Bettinas Kopfkulissentheater

Der neue Roman von Verena Stössinger schickt die Frau eines Künstlers auf die Suche nach sich selbst.

Eine Frau fährt im Intercityexpress nach Hamburg. Sie heisst Bettina und ist die Frau eines Künstlers. Sie hat ihre Stelle als Lehrerin in Basel gekündigt und will nun zu ihrem Mann ziehen, mit dem sie seit fast zwölf Jahren verheiratet ist – Felix Mitterer heisst er und ist als Schauspieler ein «Mittelkönner». Bettina hat eingesehen, dass ihr die Rolle der Künstlerfrau, die ihrem eigensinnigen Helden mal «Anpeitscherin» und «Treiberin» ist und mal «Krankenschwester mit der dargebotenen Hand», ohnehin auf den Leib geschrieben ist. Und die Liebe sei doch zunächst eine Nähe, denkt sie sich beim Anblick der auf abstrakte Formen reduzierten Landschaft durch das Zugfenster.

«Spielzeit Nummer zwölf», der neue Roman von Verena Stössinger, begleitet eine weibliche Figur beim Aufspüren ihres verinnerlichten Spannungsfeldes zwischen Rollenklischee und Selbstbild und lässt sie sich dabei an einer Typologie von Künstlerfrauen reiben. Bettinas Reise, so fasst die 1951 in Luzern geborene und heute in Binningen bei Basel lebende Autorin zusammen, sei eine Reise zu Felix, in die Berufswelt des Theaters hinein, aber auch eine Reise durch die verschiedenen Künstlerfraumodelle, die das Funktionieren neben einem Schauspieler erlaubten. Verena Stössinger, die neben ihrer für sie zentralen schriftstellerischen Tätigkeit als Publizistin, Skandinavistin und Literaturvermittlerin tätig ist, kennt den Theaterbetrieb seit über dreissig Jahren. Mit neunzehn zog es sie nach Berlin, das am weitesten entfernte Ziel, das sie sich damals habe vorstellen können – zum Theater, weil das für sie «die Gegenwelt, der Fantasieraum zum Bürgerlichen und Realen» gewesen sei, erzählt Stössinger: «Das Theater war ein Aufbruch. Es hat mir elend gut getan und mich auch für politische Anliegen sensibilisiert.» Zwischen 1971 und 1977 absolvierte sie die Max-Reinhardt-Schauspielschule und arbeitete bei Ernst Wendt als Dramaturgie- und Regieassistentin. In dieser Zeit lernte sie ihren Lebenspartner, den Schauspieler Jürgen Stössinger kennen.

1978 bekommt Stössinger eine Tochter – und stürzt in eine Krise. Sie schreibt ein Tagebuch, um zu begreifen, warum sie sich so verloren und unfähig vorkommt. «Bin ich jemand anders, weil ich jetzt ein Kind habe?», lautet ihre existenzielle Kernfrage an sich selbst. 1980 erscheint die autobiografische Erzählung «Ninakind». Der darauf gründende Ruf des Autobiografischen hafte ihr bis heute an, beklagt sich die Autorin. Auch das Material für «Spielzeit Nummer zwölf» sei autobiografisch; das Theater liefere ihr einen «unglaublichen Fundus von Bildern, Geschichten, Verletzungen, Freuden». Doch was sie daraus mache, sei ein «Text über der Wirklichkeit»: «Ich nehme das autobiografische Material und setze es anders zusammen.»

Um ihr Künstlerfrauenleben auszuhalten, will die fiktive Gestalt Bettina ein «Trostwerk» schreiben, eine Enzyklopädie von (nicht über) Künstlerfrauen. Sie sammelt zunächst «Anhaltspunktgeschichten» und stellt sich vor: «Um sie herum oder ihnen entlang müsste das Werk dann zu wuchern beginnen, zu blühen und nach allen Seiten sich verzweigen, öffnen und breit werden, falls ihr das gelänge, vielschichtig und vielstimmig; Biografien, Typologien, Erinnerungen, Szenen und Träumereien, alles sollte möglich sein.» In der Welt des Theaters, in der niemand Zeit hat für «so genannte Menschlichkeiten» und selbst der Kritiker ein «Bescheidwisser» ist – hinter dieser Kulisse, wo allenfalls das Spiel, nie aber das Leben authentisch ist, inszeniert sie ein mehrschichtiges erzählerisches Kopftheater, das ihr wenigstens fiktive Autorität verschafft und sich als ihr «Lebenselixier» schlechthin erweisen könnte.

Die Erzählerin begegnet Bettinas Introspektion gerne mit Überzeichnungen: etwa, indem sie ihre Freundin Esther, die das «System des patriarchalen Kolonialismus» längst durchschaut hat, «Warn- und Wahrheitsbilder» von Frauen in der Opferrolle komponieren lässt. Der Witz aber ist, dass diese Bilder für Verena Stössinger reale Schablonen für das weibliche Selbstverständnis sind. «Du triffst dich nur selbst, wenn du dein eigenes Feld aufreisst», beschreibt sie das Wagnis, das strukturell bedingte und individuell erfahrene, vielschichtige und variantenreiche Frauenbild aufzuritzen.

«Spielzeit Nummer zwölf» – ein Generationenroman also? Mitnichten. Die Frau des Künstlers wird uns vom Leib gehalten: Bettina Mitterer ist keine Identifikationsfigur, wie sie ein Teil der zeithistorischen Frauenliteratur für die politische Bewusstseinswerdung anbieten musste. Stössingers narrativer Griff, die Ränder und Ritzen von «Fertigbildern» auszuleuchten und der Vorstellungskraft eines theatralischen Gedankenraums auszusetzen, erweist sich als Glücksfall für all jene, für welche die längst überstanden geglaubten Geschlechterrollenzwänge nach wie vor nicht aus der Welt geschafft sind, die aber dennoch wie Bettina Mitterer von dem träumen, was Hilde Domin so formuliert hat: «Wer es könnte, die Welt hochwerfen, dass der Wind hindurchfährt.»

Verena Stössinger: Spielzeit Nummer zwölf. eFeF-Verlag. Bern/Wettingen 2004. 200 Seiten. 35 Franken