Türkei: Eine Mehrheit ist gegen den Krieg: Die Zweifel der Generäle

Die Medien jubeln an der Seite der USA, doch die Bevölkerung ist skeptisch. Auch die Armee mahnt zur Vorsicht.

Vor rund zwei Wochen veröffentlichte die türkische Tageszeitung «Hürriyet», eine der auflagenstärksten Zeitungen des Landes, einen Aufsatz des britischen Premierministers Tony Blair. Fast die gesamte erste Seite hatte die Zeitung für den Londoner Regierungschef freigeräumt. Blair soll eigens für «Hürriyet» geschrieben haben, stand in dem Blatt, das den Beitrag mit der in dicken Lettern gedruckten Frage versah: «Moslems, fragt euch – wollt ihr unter einem Regime wie in Afghanistan leben?».

Es war die wohl skurrilste Aufmachung einer türkischen Zeitung seit Beginn der Bombardements in Afghanistan. «Wir fragen doch schliesslich auch nicht, ob die Anglikaner unter der Inquisition leben wollen», empörte sich ein Kolumnist der Zeitung «Yeni Safak». Doch die «Hürriyet»-Redaktion wusste sehr wohl, warum sie Blairs Text so betitelte. Die Antwort ist nämlich eindeutig: Nein, wir türkischen Moslems wollen nicht unter einem Taliban-Regime leben. Doch warum diese ideologische Pflichtübung, wenn ohnehin alle TürkInnen so denken?

Die herrschende politische Elite der Türkei hat die Chancen erkannt, die sich innenpolitisch und aussenpolitisch eröffnen, nachdem der Westen von hysterischen Wellen der «Terrorismusbekämpfung» erfasst wurde. Die offizielle These, dass einzelne Personen und Terrororganisationen für alles Übel verantwortlich seien (und nicht etwa jene, die für die sozialen Verhältnisse verantwortlich sind), findet derzeit allerorts Bestätigung. Hatte nicht die Türkei jahrelang auf die Gefährlichkeit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hingewiesen und den Westen beschuldigt, die PKK zu dulden, ja zu fördern? Hatte nicht die Türkei jahrelang vor allem Deutschland vorgeworfen, extremistischen islamistischen Organisationen Unterschlupf zu gewähren?

Nachdem ein Haufen Taliban und ein gewisser Usama Bin Laden für das Böse auf der Welt verantwortlich gemacht werden, sieht sich die türkische Führung nachträglich legitimiert. Die europäischen Staaten standen längst nicht so stramm im Kampf gegen den Terrorismus. Nun haben ihnen die USA Disziplin beigebracht.

Die Parteinahme zugunsten der USA und gegen das afghanische Regime war wohl in keinem anderen moslemischen Land so leicht wie in der Türkei. Das Parlament erteilte der Regierung ohne grosse Debatte die Vollmacht, die Stationierung weiterer ausländischer Truppen zuzulassen und türkische Truppen im Ausland einzusetzen. Die beiden im Parlament vertretenen Parteien, die den Islam als politische Richtschnur begreifen (sie sind Nachfolgeorganisationen der verbotenen Tugendpartei), protestierten nur schwach. Seit Wochen zeigen die türkischen Fernsehanstalten Sendungen, in denen immer wieder klargestellt wird, dass die Taliban nichts mit dem Islam gemein haben.

Über 40 000 Menschen sind im Zuge des Konfliktes in den kurdischen Regionen getötet worden. Die PKK und ihr Führer Abdullah Öcalan, der heute im Gefängnis sitzt, gelten in der türkischen Öffentlichkeit als Inkarnation des Terrorismus. An die schreckliche Zeit, als nicht nur Soldaten und PartisanInnen in den kurdischen Regionen, sondern vor allem auch ZivilistInnen getötet wurden, will sich niemand erinnern. Über Jahre hinweg hat die offizielle Propaganda den Menschen eingeredet, dass «die Türken» im Kampf gegen den Terror von der Welt im Stich gelassen worden seien. Seit dem 11. September, so heisst es nun, sei die Welt erwacht und habe erkannt, wie Recht die Türkei immer schon hatte.

Kein Zweifel: Islamistische Extremisten, die Taliban und Bin Ladens Männer werden verabscheut. Bisher gab es kaum eine Demonstration gegen den Krieg der USA in Afghanistan. Islamistische Organisationen und Parteien, die stark mobilisieren können, wenn es um das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten geht, verhalten sich recht still. Zu gross ist die Gefahr, unter dem Beifall grosser Bevölkerungskreise als «Terrorist» entlarvt und marginalisiert zu werden. Die Anschläge in den USA haben dem politischen Islam in der Türkei schwer zugesetzt.

Genügend Guerilla-Erfahrung

Trotz dem gewaltigen Konsens, dem ein nationalistisch interpretierter Antiterrorismus und ein säkular-gemässigtes Islambild zugrunde liegt, gibt es grosse Differenzen zwischen den Erwartungen der Bevölkerung und den Taten der Regierenden. Während Ankara im Fahrwasser der US-Regierung rudert und bereit ist, jeden Schritt in Afghanistan – einschliesslich der Entsendung türkischer Soldaten – mitzutun, herrscht in der Bevölkerung eine breite Antikriegsstimmung.

Die Umfragen seriöser Meinungsforschungsinstitute zeigen, dass die TürkInnen ganz anders denken als die TV- und ZeitungskommentatorInnen, die tagtäglich die entschlossene Solidarität mit den USA fordern. Über achtzig Prozent der Bevölkerung sind gegen die Entsendung türkischer Truppen nach Afghanistan. Eine Mehrheit findet die Militärschläge der USA unangemessen. Grund für diese Haltung ist vor allem die Angst, dass die Türkei in den Konflikt hineingezogen werden könnte – zwar nicht im fernen Afghanistan, aber vielleicht im benachbarten Irak, der von den USA auch zu den Terroristenstaaten gezählt wird.

Der alte Freund Dostum

Auch die türkischen Militärs – ein starker innenpolitischer Faktor – scheinen die PolitikerInnen in ihrer totalen Unterstützung für die USA zu bremsen. Die Generäle halten Auslandseinsätze, die nicht im Rahmen von Uno-Friedenstruppen erfolgen, für problematisch. Das hat Tradition. Abgesehen von Militärexpeditionen in den Nordirak steht die Armee aussenpolitischen Abenteuern sehr skeptisch gegenüber – sogar die Zypern-Invasion 1974 hatte in der Generalität nicht ungeteilten Zuspruch erhalten. Auch jetzt hat die Militärführung Bedenken. Die amtierenden Armeechefs äussern sich zwar nicht, aber jeder Exgeneral warnt in jedem Interview vor der Verwicklung in einen afghanischen Guerillakrieg, der ihrer Meinung nach lange dauern wird und daneben gehen könnte. Mit Guerillakriegen haben die türkischen Militärs so ihre Erfahrung.

Die Konturen der türkischen Rolle in Afghanistan wurden am deutlichsten beim Besuch des britischen Aussenministers Jack Straw vor anderthalb Wochen. Straw und sein türkischer Amtskollege Ismail Cem verwiesen darauf, dass die Türkei schon jetzt an der Gestaltung der Nachkriegsordnung in Afghanistan mitwirken soll. Der usbekische General Abdur Raschid Dostum, der an der Nordallianz beteiligt ist, hat über Jahre hinweg enge Beziehungen zur Türkei gepflegt; er lebte hier auch eine Zeit lang im Exil. In der Parlamentsdebatte über einen möglichen Einsatz türkischer Truppen bezeichnete Ministerpräsident Bülent Ecevit Dostum als «grossen Freund der Türkei». Wer über die Nachkriegsordnung in Afghanistan zu befinden hat, steht derzeit jedoch in den Sternen.