USA danach: Viele grosse Worte, viele kleine Taten: Ist dies ein Krieg?

Sheriff Bush will Usama Bin Laden «tot oder lebendig». Ritter Bush ruft zum «Kreuzzug» gegen die Barbaren. Stratege Bush spielt mit Raketenabwehrplänen. Trifft das die Stimmung in der Bevölkerung?

Schon am Tag danach wird auf dem Internet aggressiver denn je Porno verkauft. Nach ein paar Momenten pietätvoller Werbefreiheit – und das bei traumhaften Einschaltquoten! – verspüren AnbieterInnen aller Art ein enormes Nachholbedürfnis. «Was wollen Sie?», fragt eines der Fenster zur Konsumfreiheit. «Sex / Glücksspiele / Kredit / Versicherungen»? Dann folgen die ersten Meinungsumfragen. «Verspüren Sie Schock / Sorge / Wut?» 27 Prozent der öffentlichen Stimmen zeigen sich schockiert, 25 Prozent sind in Sorge, 46 Prozent wütend und 2 Prozent haben gar nichts angeklickt und wollen, wie ich, bloss mal schauen.

Mit ähnlich wackligen Daten untermauert die «New York Times» am Wochenende die allgemeine Kriegsbereitschaft der Bevölkerung. Ich entziffere die entsprechenden Grafiken mit meinen Töchtern, und mit vereintem statistischeM Wissen finden wir heraus, dass das, was auf den ersten Blick wie eine fast hundertprozentige Unterstützung von George W. Bushs Vergeltungsplänen aussieht, sich auf eine knappe Mehrheit zurückrechnen lässt – das ist immer noch erschreckend, aber realistischer.

Die Leute mögen noch so viele US-Fahnen schwenken, hurrapatriotische Sprüche klopfen und die Nationalhymne anstimmen. Sie mögen sich – überdreht wie sonst nur zu Weihnachten, Ostern und Halloween – von Kopf bis Fuss, von Pullover bis Piercing mit kitschigen blauweissroten Accessoires dekorieren. Am Boden der Wirklichkeit sieht es nüchterner aus; ein übermässiger Andrang von jungen RekrutInnen ist jedenfalls, anders als nach dem Angriff auf Pearl Harbor 1941, aus den amerikanischen Rekrutierungsbüros nicht zu vermelden. Präsident Bush prophezeite, dieser erste grosse Krieg des 21. Jahrhunderts werde «schattenhaft, lang und verlustreich» sein. Und das erinnert nun doch sehr an Vietnam.

Aus Rücksicht auf die Gefühle ihrer KundInnen hat dieser Tage eine Detailhandelskette statt der üblichen Ankündigung der Sonderangebote der Woche ein farbiges US-Papierfähnchen samt Gebrauchsanleitung an die Haushalte verschickt. «Rausnehmen. Ins Fenster stellen. Die Freiheit umarmen. Ihre K-Markt-Filiale.» Auf der Rückseite dieser Werbeseite in meiner Tageszeitung steht ein seitenlanger Artikel über Usama Bin Laden und die Herrschaft der Taliban. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass Präsident Bush, der ältere, genau diesen cleveren «Widerstandskämpfer» mitfinanzieren und ausbilden liess – damals, als «das Böse» noch in der Sowjetunion lag. Oder dass Präsident Bush, der jüngere, noch im Mai diesen Jahres 48 Millionen US-Dollar an die Taliban überweisen liess – als Anerkennung für ihre guten Dienste im Krieg gegen Drogen. So etwas erfährt man nicht in grossen US-Tageszeitungen, sondern nur in den kleinen alternativen US-Medien.

Die aussenpolitische Unwissenheit und Uninteressiertheit in diesem weiten, trotz Globalisierung isolationistisch orientierten Land ist grösser als anderswo. Medien und Politik sind bestimmt vom Überlegenheitsgefühl des weissen Amerikas. George W. Bush etwa hatte den pakistanischen Amtskollegen Pervez Muscharraf, den er jetzt als Bundesgenossen wirbt, vor einem Jahr noch nicht einmal dem Namen nach gekannt. Senatoren, die lautstark Turm um Turm nach Vergeltung rufen, können oder wollen sich noch nicht einmal vorstellen, dass in der angepeilten Region, Afghanistan, kein internationales Handelszentrum steht und «Ziele von hohem Wert» (wie Verteidigungsminister Rumsfeld das nennt) sich nicht leicht finden lassen. Sogar noch der Rassismus der Strasse, der sich jetzt gegen arabische und muslimische US-AmerikanerInnen richtet, ist spezifisch US-amerikanisch: «Wüstenneger» (Sandnigger) heisst eine der Beschimpfungen, die ungewollt an ein anderes unbewältigtes Kapitel der US-amerikanischen Geschichte rührt.

Ein Ausweg aus Nichtverstehen, Hilflosigkeit und Trauer ist für viele der friedliebenderen NordamerikanerInnen die Direkthilfe, die karitative Aktion. Gegen die Armut im eigenen Land tragen sie auch in normaleren Zeiten Hörnli, Ketchup und WC-Rollen in Kirchen, Schulen oder Seniorenzentren. Sozialpolitische Vorträge hören sie sich weniger gern an. Und jetzt türmen sich auf den Zufahrtsstrassen von New York Tonnen von Hundefutter für die wenigen Tiere der Rettungsteams. Für die vor Ort tätigen Fachleute der Hilfsorganisationen sind all die Kleider, Nahrungsmittel und Wasserbehälter, die aus dem ganzen Land lastwagenweise und ungefragt in New York eintreffen, deren Waren entladen und gestapelt werden müssen, der zweite Schuttberg. Aber wer jetzt kein Blut für die Opfer spendet und sich stattdessen gegen weitere Blutopfer in aller Welt wehrt, gilt schnell als kaltherzig, gleichgültig, unamerikanisch und macht sich verdächtig.

«Aggressiver Sentimentalismus» nennt eine linke Kolumnistin das Vorgehen von Regierenden und Medien, die die Öffentlichkeit immer wieder den Bildern der Zerstörung aussetzen, um sie in das Gefühl der Sinnlosigkeit allen Tuns zu versenken. Es wirkt. Mit einer einzigen einsamen Gegenstimme hat der US-Kongress Präsident Bush einen Freipass für militärische Schläge ausgestellt und die Militärausgaben drastisch erhöht. Allgemeine Zustimmung auch zur Wahl von John Negroponte, der in den achtziger Jahren die US-Botschaft in Honduras leitete, zum neuen US-Botschafter bei der Uno. Er glaube auch heute nicht, dass es da Todesschwadronen gegeben habe, sagte Negroponte in einem Hearing. Und die PolitikerInnen schluckten es. Man könne in diesen Zeiten nicht zu moralisch sein, heisst es. Und auch der CIA soll fortan wieder «freier» unappetitliche Figuren als AgentInnen anheuern können. Freier als wann? Freier als damals mit Bin Laden?

Unterdessen konzentrieren sich die Big-Brother-Szenarien der Sicherheitsexperten auf die «Smart Card», einen elektronischen Ausweis, den jeder US-Bürger fortan auf sich tragen könnte. Wichtige Objekte einer realitätsnäheren Begierde der Überwachung dürften neben den künftigen ImmigrantInnen auch die BenutzerInnen des Internets sein. Gleich nach den Attentaten hat der FBI an wichtigen Knoten, zum Beispiel bei AOL und Earthlink –, Geräte installiert, mit denen sich der Datenfluss besser kontrollieren lässt. Wer mailt in den Nahen Osten? Wer klickt extremistische Sites an? Wer hat ein Schweizer Sackmesser bestellt? Die Einschränkung individueller Freiheitsrechte in Kriegszeiten und bei nationalen Katastrophen hat in den USA Tradition. «Die Frage ist nun», so Norman Dorsen von der Amerikanischen Bürgerrechtsunion, «ist dies ein Krieg?»