Vom Staatsmann zum Symbol: Arafats einstöckiger Staat

Der Amtssitz des palästinensischen Präsidenten Jassir Arafat liegt in Trümmern. Die israelische Kriegsmaschine hat gnadenlos gewütet in Ramallah. Arafat ist mit seinen engsten Beratern sowie einer grösseren Zahl palästinensischer Aktivisten auf ein einziges Stockwerk zurückgedrängt worden. Die israelische Armee kontrolliert den Rest des Gebäudes. Auf dem Dach weht die israelische Fahne.

Ist Arafat am Ende angekommen? Ist mit seinem Ende auch die Ära der palästinensischen Autonomiebehörden vorbei, die durch die Osloer Verträge seit 1993 etabliert worden sind? Hat gar die Todesstunde für den palästinensischen Nationalismus geschlagen und ist damit eine eigenständigen palästinensische staatliche Existenz ausgeschlossen? Zweifellos ist dies das Ziel des israelischen Premiers Ariel Scharon. Für ihn kann der schon über hundert Jahre währende Kampf zwischen ZionistInnen und PalästinenserInnen nur mit der vollständigen Niederlage einer Seite enden, der palästinensischen. Denn nur damit wäre, so das scharonsche Weltbild, die Zukunft eines jüdischen Staates Israel, vom Mittelmeer bis zum Jordantal, garantiert.

Scharon ging in seinem Krieg gegen die PalästinenserInnen systematisch vor. Unerbittlich und Schritt für Schritt wurde das gesamte Westjordanland wiederbesetzt und in hunderte und aberhunderte kleiner Gefängnisse verwandelt, kontrolliert durch die israelische Armee. Dieses Niederwalzen von allem, was palästinensisch ist, kulminiert symbolisch in der Abriegelung und Zerstörung des Amtssitzes von Arafat. Doch wird Arafat auch diesen israelischen Angriff, wie schon unzählige zuvor, überleben?

Seit Samstag sind Palästinenserinnen und Palästinenser, junge, alte, politisch organisierte, militante AktivistInnen und einfache BürgerInnen, auf der Strasse. In offener Herausforderung der Ausgangssperre demonstrieren sie für Arafat, für den palästinensischen Nationalismus und für eine palästinensische Zukunft in einem unabhängigen Staat. Dies lassen sie sich von niemandem verwehren.

Dass derartige Manifestationen auch unter den extremsten Bedingungen möglich sind, trotz Abriegelung, Ausgangssperre und unter direkter Gefahr für Leib und Leben aller, die sich auf die Strasse wagen, gehört zu den historischen Verdiensten Arafats. Seine ideologische, politische und organisatorische Arbeit als Mitbegründer und später Führer der Fatah, der Bewegung zur Befreiung Palästinas, sowie seit 1969 als Präsident des Exekutivkomitees der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO haben wesentlich dazu beigetragen, dass die PalästinenserInnen sich zur Nation konstituierten und den Anspruch auf einen eigenen Staat zu artikulieren begannen. Damit meldeten sie sich unüberhörbar als politische Stimme zu Wort, angeführt und repräsentiert, sowohl direkt politisch als auch symbolisch, eben durch Jassir Arafat.

In einer ersten Phase, zwischen 1965 und 1970/71, war es der bewaffnete nationale Befreiungskampf, der einen unabhängigen palästinensischen Staat zu erringen versuchte. Schon Anfang der siebziger Jahre jedoch versuchte Arafat, der zeitlebens zuallererst ein Politiker, nie aber ein Militär war wie etwa Ariel Scharon, den Staat Palästina politisch durchzusetzen. Als Realpolitiker, der Arafat auch immer war und geblieben ist, hielt er relativ früh, spätestens aber nach dem Oktoberkrieg 1973, nur einen palästinensischen Kleinstaat neben Israel in den Grenzen der Periode vor dem Krieg 1967 regional und international für durchsetzbar.

Typisch für Arafats Politikstil ist dabei, dass er sein übergeordnetes Ziel vor allem aussenpolitisch durchzusetzen versuchte. Die palästinensische Gesellschaft in der Diaspora, also in den arabischen Anrainerstaaten rund um Israel, war wie die palästinensische Gesellschaft, die seit 1967 unter direkter israelischer Besatzungsherrschaft stand, durch den bewaffneten Kampf mobilisiert und für das Ziel der Befreiung gewonnen. Befreiung und bewaffneter Kampf blieben so die Schlagworte auf der palästinensischen Strasse, während die politische Führung unter Arafat einen diplomatischen Feldzug zur Etablierung eines palästinensischen Staates führte.

Erst 1988, nach einem Jahr palästinensischem Volksaufstand gegen die israelische Besatzung trafen sich beide Strategien. Der palästinensische Nationalrat – die Legislative der PLO – verabschiedete unter der Federführung von Arafat ein klares Ziel für den palästinensischen Nationalismus: ein unabhängiger palästinensischer Staat in friedlicher Koexistenz mit Israel. Arafat hatte damit durchgesetzt, dass die Strategie des Befreiungskrieges ersetzt wurde durch die politische Strategie der Staatenbildung.

Arafats Tragödie als politischer Führer war und ist es bis heute, dass keine israelische Regierung die Chance einer friedlichen Lösung des Nahostkonfliktes durch Kooperation mit ihm akzeptiert hat. Von Yitzhak Rabin bis – in extremster Form – Ariel Scharon meinten alle Premiers, sie könnten sich in der Region unter Missachtung jeglicher palästinensischer Ansprüche behaupten. Rabin war in Oslo sicher am weitesten gegangen, als er die Möglichkeit eines palästinensischen Staates implizit zugestand. Aber auch er machte schon den ersten und entscheidenden Rückzieher, als er sich nach dem Massaker durch einen Siedler in der Abrahams-Moschee in Hebron 1994 weigerte, gegen israelische Siedler vorzugehen. Ein Ausgleich zwischen Israel und den PalästinenserInnen ist jedoch nur denkbar und vor allem realisierbar, wenn die israelische Siedlungspolitik beendet wird. Denn diese Siedlungspolitik ist Kolonialismus in reinster Form. Sie verhindert per se die Beendigung der Besetzung und damit den Beginn eines Friedensprozesses, der diesen Namen auch verdient.

Teile der palästinensischen politischen Elite, sowohl aus der Diaspora als auch aus der Westbank, meinten, aus dem Kriegszug Scharons Kapital schlagen zu können. Vor allem, als sich US-Präsident George Bush voll hinter Scharons Politik stellte, wenn auch in einem logischen Salto mortale, als er diese Politik nämlich koppelte mit der Forderung nach einem palästinensischen Staat, sahen einige palästinensische PolitikerInnen, mit kräftiger finanzieller Unterstützung aus westlichen Quellen, die Chance, Arafat den politischen Gnadenstoss zu versetzen und die politische Führung zu übernehmen. Sie haben dabei übersehen, dass auch sie für Scharon nicht akzeptabel sind – genauso wenig wie Arafat.

Doch Arafat bleibt. Er ist für die meisten PalästinenserInnen das Symbol ihres Strebens nach Freiheit und Unabhängigkeit. Und dies trotz ihrer immer wieder artikulierten Kritik an seiner Israel gegenüber allzu kompromissbereiten Politik. Und auch trotz ihrer Kritik an Arafats Führungsstil, an seiner Unfähigkeit, oder präziser: seiner Nichtbereitschaft, die weit verbreitete Korruption in der palästinensischen politischen Elite zu stoppen, an der Unfähigkeit, oder: Nichtbereitschaft seiner Behörden, die palästinensische Gesellschaft im Widerstand gegen die israelische Besetzung zu organisieren und anzuführen.