Michail Ryklin: Unter innerer Zensur

Nr. 38 –

Der russische Philosoph, Essayist und Schriftsteller erzählt über das intellektuelle Leben in Russland und wie subtil kritische Kultur ausgegrenzt wird.

WOZ: In Ihrem neusten Buch geht es um die Verwüstung der Ausstellung «Achtung Religion» durch eine Gruppe religiöser Fanatiker im Januar 2003 (siehe unten). Sind das marginale Figuren - oder kann so etwas jederzeit wieder passieren?

Michail Ryklin: Die Ausstellung wurde von einer relativ kleinen Gruppe extrem nationalistisch und antisemitisch gesinnter Personen verwüstet. Man muss diese Leute bestimmt als marginal bezeichnen. Doch das Problem besteht darin, dass sie von Anfang an von staatlichen Institutionen unterstützt worden sind. So hat die Staatsduma in einem Appell an den Generalstaatsanwalt die Organisatoren der Ausstellung beschuldigt, die religiösen Gefühle orthodoxer Gläubiger verletzt zu haben. Und die Staatsanwaltschaft hat unter einem Vorwand die Zerstörer der Ausstellung freigesprochen und ihnen damit praktisch recht gegeben.

Das tönt nach einer gefährlichen Entwicklung.

Ja, es ist gefährlich. Fremdenfeindlichkeit ist in Russland sehr weit verbreitet. Ausländer werden angegriffen und sogar umgebracht. Es gibt in Russland viele Gründe, unzufrieden zu sein. Der Unterschied zwischen Reich und Arm ist riesig. Dazu kommt die Unsicherheit des neuen russischen Menschen in Bezug auf seine Identität. Er meint, Russe zu sein, handelt aber oft vollkommen sowjetisch. Er gibt sich religiös, benimmt sich aber wie ein Atheist. Er erfüllt die religiöse Form, fährt aber fort, seinen Nächsten zu hassen: Kaukasier, Juden, Schwarze und andere.

Unter welchen Bedingungen arbeitet heute die russische Intelligenz? Gibt es einen Markt der Ideen, einen Austausch mit dem Ausland, gibt es Geld für diese Arbeit?

Natürlich gibt es Ideen in Russland, für die viel Geld gezahlt wird. Die Ideen - oder besser gesagt: Arbeitsmethoden - der sogenannten Polittechnologen sind sehr gefragt. Sie arbeiten eng mit den Mächtigen zusammen und verdienen einen Haufen Geld. Doch ihre Methoden unterscheiden sich von denjenigen der «öffentlichen Intelligenz». Die normalen Intellektuellen - damit meine ich Leute aus den Universitäten oder der Akademie der Wissenschaften - arbeiten unter völlig anderen Bedingungen. Das intellektuelle Leben in Russland verläuft insgesamt verhalten. Publikationsmöglichkeiten sind rar: wenige Zeitschriften, die einigermassen unabhängig sind und einen intellektuellen Anspruch haben, und auch wenige Zeitungen, die gegenüber Europa aufgeschlossen sind und deshalb für die «öffentlichen Intellektuellen» attraktiv wären. Und auch bei den Verlagen existieren lediglich noch Überbleibsel des früheren Überflusses.

An Geld, einen intellektuellen Markt zu fördern, fehlte es ja nicht.

Ja, Geld ist sehr viel vorhanden. Aber es wird eben gerade nicht dafür verwendet, eine intellektuelle Diskussion im Lande zu fördern und zum Beispiel Verlage zu unterstützen, sondern im Gegenteil dafür, die intellektuellen Freiheiten zu beschneiden. Sogar der Prozess der Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte ist zum Stillstand gekommen. Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre sind in Russland enorm viele Bücher über die Sowjetzeit erschienen - Übersetzungen aus europäischen Sprachen, Werke, die in der Emigration geschrieben worden waren, Bücher von Historikern und Philosophen, die vorher nicht gedruckt wurden. Heute findet die kritische Aneignung der sowjetischen Geschichte in Russland nicht mehr statt oder höchstens auf private Initiative einzelner Leute hin. In diesem Sinne ist die intellektuelle Situation in Russland heute bedeutend schlechter als noch vor zehn Jahren.

Wo liegen die Gründe dafür?

In Russland herrscht das Konzept der vertikalen Macht: Oben sitzt der Präsident, den viele Zar nennen, und rund um ihn viele, die der Ansicht sind, dass Russland ohne Zar gar nicht existieren kann. Ideologen, die dafür Geld vom Staat erhalten, preisen diese für Russland angeblich so traditionellen Strukturen. Das Konzept der «gelenkten Demokratie» ist inzwischen vom Konzept der «souveränen Demokratie» abgelöst worden. Darunter verstehen die Ideologen eine Demokratie, die so in die Tat umgesetzt wird, wie sie es wollen - und nicht so, wie Demokratie in anderen Ländern verstanden wird. Das bedeutet faktisch, dass jeder beliebige Autoritarismus sich als Demokratie ausgeben kann, da Russland das Monopol auf die Interpretation seiner Handlungen für sich beansprucht. Die Einschränkung der Pressefreiheit, die völlige Kontrolle über das Fernsehen, die Einschränkung der Aktivität der Menschenrechtler - all dies kann dann als Teil dieser Demokratie russischer Spielart präsentiert werden.

Warum ist es denn überhaupt so wichtig, dass Russland sich als Demokratie gibt?

Weil Russland heute Teil des Weltmarktes ist. Russland lebt vom Verkauf von Rohstoffen, Russland ist als ökonomische Struktur vollkommen abhängig vom ausländischen Markt und damit von der Meinung der Aussenwelt. Deshalb ist die russische Regierung an der äusseren Legitimation Russlands als Demokratie interessiert. Die heute in Russland herrschende Schicht unterscheidet sich von der in der Sowjetunion, es sind meist reiche Leute, die Geld im Westen haben, dort gerne Immobilien kaufen und sich völlig am westlichen Lebensstil orientieren. Damit sie sich in Russland bereichern können, muss Russland als Demokratie anerkannt sein.

In Russland fühlen sich sehr viele Leute mit Europa und der Demokratie verbunden. Doch diese Leute haben fast keine Infrastruktur, die ihren Ansichten Öffentlichkeit verschaffen könnte. In Russland ist heute auf der Ebene der Medien, der Verlage, der Zeitungen und Zeitschriften nur ein sehr kleines Spektrum der Meinungen vertreten. Der Raum der Massenmedien ist so konstruiert, dass die demokratischen Ansichten kein Recht haben, mit den nationalistischen, imperialen, sogenannt staatlichen Ansichten in Konkurrenz zu treten. Diese Politik, als deren Resultat die Sphäre des Meinungsaustausches systematisch erstickt wurde, hat mit Putin begonnen. Ohne diese Sphäre ist echtes intellektuelles Arbeiten nicht möglich, weder Philosophie noch Geschichtswissenschaft und auch nicht echte zeitgenössische Kunst.

Genau die zeitgenössische Kunst wird jetzt offenbar zum Ziel von Angriffen.

Wie der zeitgenössischen Kunst der Nährboden entzogen wird, wie sie unter Druck gerät, das beschreibe ich am Beispiel der Ausstellung «Achtung Religion». Man sagt den Leuten, sie hätten nicht das Recht, Christus abzubilden. Sie hätten auch nicht das Recht, den abgetrennten Kopf eines Fisches zu zeigen, denn damit machten sie sich über das Christentum lustig. In anderen Arbeiten war gar keine orthodoxe Symbolik vorhanden. Trotzdem hiess es, sie seien eine Beleidigung. Die Künstler werden sich gut überlegen, was sie künftig darstellen. Das mündet in innere Zensur.

Kritische politische Kunst - gibt es die in Russland überhaupt noch?

Ich wüsste niemanden, der sich mit solcher beschäftigt. Alle haben verstanden, dass diese Ausstellung nicht zufällig verwüstet wurde. Jetzt wird es sich jeder Künstler tausendmal überlegen, ob er religiöse Themen behandeln oder den Krieg thematisieren soll, den Präsidenten, die Regierung, die Politik, die Armee, die Geheimdienste. Er wird diesen Themen fernbleiben. Das ist der Tod der kritischen Kunst.

Auch hier: Geld, Kunst zu unterstützen, wäre vorhanden ...

Die Künstler haben die Möglichkeit, ihre Werke zu verkaufen. Es laufen zwei Prozesse parallel: die Entpolitisierung der Kunst, aber auch der Philosophie, der Geschichte und der Soziologie - und die Kommerzialisierung der Kunst. Wenn du gut bist, alte Arbeiten hast oder diese wiederholen willst, dann kannst du diese gut verkaufen. Sie sind schon Geschichte und stören niemanden. Der Präsident hingegen ist tabu, ebenso seine Umgebung. Und der Krieg, die Verletzung der Menschenrechte, die Religion - insbesondere die Orthodoxie - und natürlich der Islam, denn überall könnte es Probleme geben. Was bleibt überhaupt noch? In Russland existierte sogar in den späten Sowjetjahren eine kritische Kunst, der sogenannte Moskauer Konzeptualismus. Offizielle Ausstellungen waren damals unmöglich, deshalb stellten die Künstler in ihren Wohnungen aus, fanden neue Formen für ihre Arbeiten, nicht traditionelle Formen. Doch es gab eine kritische Kunst und auch ein Nachdenken darüber. Damit steht es heute sehr schlecht.

Wo leben und arbeiten die Konzeptualisten jetzt?

Die alte Generation ist ausgewandert, die mittlere lebt halb hier, halb im Ausland. Doch das Wichtige ist: Die Atmosphäre, das Leben überhaupt, hat sich gewandelt, und darauf sollte die Kunst reagieren. Doch diese Reaktion möchte man verbieten. Man tut das recht schlau, nicht nur mit Gewalt, sondern auch mit Hilfe der Medien. Solche Operationen werden von Profis ausgedacht und ausgeführt. Das Resultat ist, dass Leute wie ich - die öffentlichen Intellektuellen - nicht mehr arbeiten können. Sie entziehen uns den Nährboden für unsere Arbeit, sie zerstören das Milieu, in dem wir existieren können. Darin besteht ihr Professionalismus.

Das erinnert doch sehr an sowjetische Methoden. Unterscheiden sich die heutigen «Operationen» von den sowjetischen?

Ja, natürlich. Sie werden ausgeführt von einem Staat, der stärker der äusseren Legitimation bedarf als die Sowjetunion. Dieser Staat hat in keiner Art und Weise die Absicht, die Erfahrung der Sowjetunion zu wiederholen, in der alle politischen Freiheiten unterdrückt, Dutzende Millionen Menschen ermordet und damit faktisch ganze Klassen ausgelöscht wurden und gleichzeitig der Staat die volle Verantwortung für das materielle Überleben seiner Bevölkerung übernahm. Jetzt ist eine andere Logik am Werk. Niemand wird deine Versorgung sicherstellen. Die jetzigen Machthaber wollen auf keinen Fall von Neuem Millionen von Menschen zu versorgen haben. Darin sehe ich einen riesigen Unterschied. Putin ist ein nicht direkt sowjetischer Typus Politiker. Viele der Methoden sind zwar tatsächlich sowjetische, aber im neuen Kontext haben sie eine andere Wirkung. Und Putin verfolgt andere Ziele. Er ist nicht daran interessiert, die Zivilgesellschaft völlig zu zerstören. Er ist daran interessiert, dass diese sich voll und ganz auf die kommerzielle Seite des Lebens konzentriert und sich auf keinen Fall mit Dingen befasst, die seine Legitimität untergraben könnten. Doch das sowjetische Modell voll und ganz wieder auferstehen lassen, das will er natürlich nicht. Es wäre auch gar nicht möglich. In Russland ist inzwischen sehr vieles privatisiert. Die völlige Aufhebung des Privateigentums kommt heute niemandem mehr in den Sinn. Das Privateigentum wird in speziellen Formen kultiviert, umverteilt, und es steht im Zentrum der entscheidenden Machtkämpfe.




«Mit dem Recht des Stärkeren»

«Achtung Religion!» hiess die Kunstausstellung, die am 14. Januar 2003 im Moskauer Sacharow-Menschenrechtszentrum eröffnet wurde. Der Kurator hatte Arbeiten von KünstlerInnen zum Thema Religion zusammengetragen - zum Teil ältere Werke, keines von ihnen besonders radikal. Vier Tage nach Eröffnung wurde die Ausstellung von Männern verwüstet, die sich als orthodoxe Gläubige bezeichneten und sich in ihrem Glauben «verspottet fühlten». Doch nicht die Täter sahen sich danach öffentlicher Ächtung oder juristischer Verfolgung ausgesetzt, sondern die Ausstellungsmacher und KünstlerInnen. In einem grotesken Prozess wurden sie des «Schürens nationalen und religiösen Zwistes» angeklagt, und zahlreiche Medien traten eine regelrechte Hasskampagne los. Zwei der Angeklagten wurden zu Geldstrafen verurteilt. Ryklin, dessen Ehefrau unter den Angeklagten war, zeichnet das kafkaeske Verfahren in seinem neusten Buch nach. Er ist Direktbetroffener, Chronist und Kommentator zugleich. Er dokumentiert das Geschehene ausserordentlich genau, was stellenweise auf Kosten der Übersicht- lichkeit und Lesbarkeit geht. Der Leserin begegnet ein Russland, in dem voreingenommene Richter urteilen, völlig inkompetente «Expertinnen» vor Gericht bestellt werden und seltsame Gestalten im Gerichtssaal auftreten, die von extremer religiöser Inbrunst und unversöhnlichem Hass zugleich beseelt sind. Gleichzeitig beobachtet Ryklin unerbittlich sein intellektuelles Umfeld, in dem die Zivilcourage schwindet und die Angst zunimmt.

Zuletzt erschienen auf Deutsch: «Verschwiegene Grenze. Briefe aus Moskau 1995-2003». Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2003. / «Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz». Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2003. / «Dekonstruktion und Destruktion». Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2006. / «Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der gelenkten Demokratie». Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2006.

Michail Ryklin

Der 1948 in Leningrad geborene Philosoph, Essayist und Schriftsteller lebt und arbeitet in Moskau, wo er an der Akademie der Wissenschaften tätig ist. 1978 promovierte er mit einer Arbeit über Claude Lévi-Strauss und Jean-Jacques Rousseau. In den achtziger Jahren Gastprofessuren in den USA und Britannien, Mitarbeit am Seminar Jacques Derridas an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Ryklin trug massgeblich zur Verbreitung westeuropäischer Gegenwartsphilosophie in Russland bei. Er war einer der Mitbegründer des Moskauer Verlags Ad Marginem, in dem auch die russische Erstübersetzung von Martin Heideggers «Sein und Zeit» erschien. Als ständiger Mitarbeiter von «Lettre International» ist er mit seiner «Korrespondenz aus Moskau» zu einem der wichtigsten Publizisten im Spannungsfeld zwischen Ost und West geworden. In seinen äusserst lesenswerten Briefen analysiert er ausgehend von gesellschaftspolitischen oder auch alltäglichen Ereignissen den Zustand des heutigen Russland. Die Sammlung der Briefe der letzten zehn Jahre, 2003 im Diaphanes-Verlag erschienen, lässt das Jahrzehnt wie unter einem Brennglas Revue passieren - aus der kritischen Perspektive des wach beobachtenden Zeitgenossen.

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