Abgestürzt und tot

Nr. 5 –

3. Folge: Die Eigenentwicklungen Der N-20, der erste Versuch, einen Schweizer Kampfjet zu bauen, kommt nicht einmal in die Luft. Der zweite Anlauf, der P-16, kommt ziemlich weit - zweimal sogar bis auf den Bodenseegrund. Das Abenteuer ist nach dreizehn Jahren definitiv zu Ende.

Plumps. Der Düsenjäger P-16 hatte über dem Thurgau viel Hydrauliköl verloren und war im Landeanflug nicht mehr zu steuern. Ohne Defekt könnte er bis auf 14000 Meter über Meer steigen. Hochfliegend sind auch die Pläne für eine helvetische Eigenentwicklung von Kampfjets. Am 25. März 1958 gegen fünf Uhr abends versinken sie vor Rorschach für immer im Bodensee.

Testpilot Jean Brunner hat sich per Schleudersitz ins sieben Grad kalte Wasser gerettet. Dort droht er zu ertrinken. Doch nach zehn Minuten erreichen Peter, Roland, Hanspeter und Rolf mit ihrem Pedalo die Unfallstelle und retten Brunner. «Seht, wie meine Hand vor Kälte schon ganz steif ist», sagt der Pilot gemäss «Ostschweizerischem Tagblatt» zu den Rorschacher Buben, «lange hätte es nicht mehr gedauert mit mir.» Die beiden Burschen Hans Mazzel und Walter Eugster bringen den Verunfallten per Motorboot in ärztliche Pflege, wie die Zeitung weiter schreibt. Brunner erinnert sich: «In der Zwischenzeit wurde meiner hochschwangeren Frau mitgeteilt, dass ich abgestürzt und tot sei.»

Brunner lebt, doch der weniger als eine Woche zuvor vom Nationalrat mit 111 gegen 36 Stimmen gutgeheissene Auftrag an die Flug- und Fahrzeugwerke AG (FFA) in Altenrhein, hundert P-16 für die Schweizer Armee zu produzieren, wird vom Bundesrat am 2. Juni 1958 gestoppt. Der öffentliche Druck ist zu gross; nach dreizehn Jahren scheitern die Pläne, in der Schweiz einen eigenen Kampfjet zu bauen, endgültig.

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Über ein eigenes modernes Kampfflugzeug denkt man im Eidgenössischen Militärdepartement (EMD) erstmals kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs nach. Düsentriebwerke muss es haben, weil dies die Zukunft ist: Jets sind weitaus leistungsfähiger als propellergetriebene Flugzeuge.

Und aus strategischen Gründen muss das Projekt auf Schweizer Boden entwickelt und gefertigt werden: Auch wenn nach dem Krieg noch unklar ist, wie sich die Schweizer Armee zukünftig aufstellen soll - dass sich die zu definierende Konzeption an der stark bewaffneten Neutralität orientiert, ist weitestgehender Konsens. Schliesslich habe diese sich in der unmittelbaren und bereits schon legendären Vergangenheit, nämlich im Aktivdienst, gut bewährt.

Zudem ist dieser Mythos sehr praktisch, der das Volk, das angeführt vom heldenhaften General sein Vaterland falls nötig bis zum letzten Atemzug verteidigt hätte, ins Zentrum rückt, statt etwa von den grossen wirtschaftlichen Zugeständnissen und den wiederholten Bücklingen gegenüber den Nazis zu sprechen. Oder von der Flüchtlingspolitik. Oder vom Raubgold. Solange für Staat und Bevölkerung die Idee der totalen militärischen Landesverteidigung, die sich vornehmlich auf Attacken aus dem Osten ausrichtet, als existenzielle Aufgabe gilt, laufen kritische Fragen und Bemerkungen ins Leere - etwa wenn Max Frisch in seinem Roman «Stiller» 1954 fragt: «Was ist, wenn ihnen [den Schweizern] die Russen erspart bleiben, ihr eigenes Ziel?»

Der Krieg hat aber auch gezeigt, dass es mitunter schwierig ist, Rüstungsgüter zu importieren, weshalb es für eine möglichst glaubwürdige und neutrale Armee fast schon zwingend eigene Waffenfabriken braucht. Und einen eigenen Kampfjet.

Schliesslich beweisen die Schweden, dass auch ein kleines Land selber Düsenjäger bauen kann. 1948 hebt mit dem J-29 Tunnan (zu deutsch: Fass - so sieht er auch aus) der erste eigene Kampfjet ab, 661 davon liefert Saab ab 1951 an die eigenen Truppen, 1957 besitzt Schweden mit über 800 modernen Maschinen die viertmächtigste Luftwaffe der Welt. Und damit pro Kopf wohl die teuerste.

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N-10 und N-11: So sind zwei Vorstudien benannt, die in Emmen auf den Reissbrettern des staatlichen Flugzeugwerks (F+W) bis 1946 entstehen. Diese relativ einfachen einmotorigen Kampfjets sollen im Sinne einer Arbeitsteilung möglichst rasch von den privaten Dornier-Flugzeugwerken (später FFA) in Altenrhein verwirklicht werden - tatsächlich entsteht daraus nach einem Umweg und verschiedenen Zwischenschritten deutlich später als geplant der P-16. In Emmen selber denken die Ingenieure seit 1945 an ein viel moderneres Flugzeug: den mehrdüsigen N-20 mit durchströmten Deltaflügeln (vgl. Foto). Einen Trumpf haben die Schweizer Flugzeugbauer: Das 1934 gegründete Institut für Aerodynamik an der ETH Zürich unter der Leitung von Jakob Ackeret geniesst Weltruf und arbeitet aktiv bei beiden Eigenproduktionen mit.

Die zuständigen Stellen im EMD wollen aus verschiedenen Flugzeugvarianten auswählen können, und sie erhoffen sich bessere Lösungen dank einer befruchtenden Konkurrenzsituation; sie setzen deshalb bewusst auf ein zweigleisiges Vorgehen. Doch das bedeutet auch, dass die sowieso schon vergleichsweise bescheidenen Mittel nicht konzentriert eingesetzt werden. Ein strategischer Fehler, wie sich zeigen wird.

Das Pflichtenheft für die geplanten Mehrzweckjets schreibt unter anderem vor: muss auf kurzen Pisten in den Alpen starten und landen sowie schnell steigen können, in Bodennähe sehr wendig sein, knapp Schallgeschwindigkeit erreichen, für den Luftkampf gegen andere Flugzeuge und gleichzeitig für den Einsatz gegen Bodenziele (den sogenannten Erdkampf) taugen und, damals eine aussergewöhnliche Forderung, einen Schleudersitz haben.

Die Flugzeugbauer der FFA beginnen also zunächst mit ihrem P-12, der noch stark auf den Emmener N-10- und N-11-Plänen beruht. Doch die verfügbaren Düsentriebwerke sind für ein einmotoriges Flugzeug, das das Pflichtenheft erfüllen muss, noch zu schwach. Im Juli 1947 beschliesst die zuständige EMD-Kommission deshalb, vorderhand ausschliesslich auf mehrdüsige Maschinen zu setzen. Damit kommts zum Duell N-20 gegen P-25. Dieser wird in Altenrhein in Anlehnung an den deutschen Messerschmitt Me-262, den einzigen Düsenjägertyp, der noch im Zweiten Weltkrieg an die Front gelangte, projektiert.

Zwei Jahre später entscheidet sich die Kommission für den N-20. Da jetzt im Ausland stärkere Triebwerke erhältlich sind, werden die FFA beauftragt, ein neues, eindüsiges und im Vergleich zum N-20 weniger aufwendiges Projekt zu entwickeln. Im Juli 1950 wird aus verschiedenen Vorschlägen der P-16 ausgewählt, im Juli 1952 bestellt Bern zwei Prototypen, die dann 1955 und 1956 erstmals abheben.

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In Emmen muten sich die Ingenieure derweil sehr viel zu. Ihr Avantgardeflieger soll zu den besten Kampfjets weltweit gehören. Sie versehen den N-20, der ganz aus Metall gefertigt ist, mit Deltaflügeln (wie sie später der Mirage trägt), obwohl solche auch im Ausland erst als Prototypen im Einsatz sind, und mit vier ultramodernen Triebwerken, die ungewöhnlicherweise in die Flügel integriert sind. Allerdings existiert dies alles erst in Ingenieursköpfen und auf Projektskizzen.

Vom N-20 wird zunächst ein Modell aus Holz gebaut, das vierzig Prozent kleiner als der geplante Flieger ist. Dieser N-20.1 wird per Motorflugzeug auf 7000 Meter über Meer gezogen, von wo er heruntergleitet. Die ersten 68 Versuche verlaufen positiv - dann crasht der Holzgleiter am 1. Juli 1949 bei einer Landung, die auf beschränktem Platz erfolgt, weil auf dem Flugplatz Emmen gebaut wird. Der Testpilot überlebt ohne grössere Verletzungen, der Gleiter ist kaputt.

Das nächste Modell im selben Massstab ist aus Metall und erhält nebst einem gelben Anstrich vier kleine (und schwache) französische Düsentriebwerke. Der N-20.2 startet am 16. November 1951 vom Flugplatz Emmen. Die Testpiloten sind begeistert von den Flugeigenschaften des Arbalète (Armbrust). Nach 91 Flügen wird er drei Jahre später ausrangiert.

Das Projekt ist auf gutem Wege, nur die Düsentriebwerke machen Sorgen. Nachdem klar wird, dass es innert nützlicher Frist für BBC, Escher-Wyss und Sulzer nicht möglich ist, in der Schweiz die geforderten Zweistromtriebwerke herzustellen, erwirbt das F+W vom britischen Hersteller Armstrong Siddeley sogenannte Mamba-Propellerturbinen. Diese werden in Emmen zu Zweistromtriebwerken umgebaut, die Swiss-Mamba-01 (SM-01) heissen und für den ersten richtigen Prototypen N-20.10 namens Aiguillon (Stachel) vorgesehen sind. Bald zeigt sich, dass die SM-01 zwar sehr innovativ, aber noch zu schwach sind und weiter entwickelt werden müssen. Geplant ist, im vorgesehenen Serienmodell N-20.15 vier deutlich stärkere SM-05 einzubauen.

Am 14. März 1952 streicht der Nationalrat aus heiterem Himmel einen Kredit von drei Millionen Franken, mit dem die Triebwerke weiterentwickelt werden sollten. Zwar gelingt es noch, den Aiguillon mit den schwachen SM-01 auszurüsten, aber die Startpiste verlässt er nie. Erste Rollversuche finden ab Januar 1953 statt, ab September wäre er für den Erstflug bereit. Doch dann kommt Anfang November der zweite Schlag: Der Bundesrat erlässt für den Aiguillon ein Startverbot. Das Abenteuer N-20 ist zu Ende.

Was ist geschehen? Gescheitert ist das Projekt vordergründig an technischen Schwierigkeiten: Die benötigten Düsentriebwerke waren im Ausland nicht erhältlich und in der Schweiz noch nicht entwickelt. Dies verzögerte das Projekt in den Augen der verantwortlichen Stellen zu lange: Die Armeeführung, der blasse, zögerliche EMD-Chef Karl Kobelt und das Parlament setzen lieber auf den simpleren P-16. Sie hoffen, dieser sei leichter zu realisieren.

Der N-20 war allerdings von Anfang an sehr ambitioniert. Das Design und viele technische Eigenheiten werden später in anderen Flugzeugen erfolgreich verwendet. Ob sich der Aiguillon mit all seinen unerprobten Details in der Luft tatsächlich bewährt hätte, konnte damals (und kann heute) kaum abgeschätzt werden. Wenig hilfreich war zudem, dass sich die zuständigen Stellen nie definitiv entscheiden konnten, ob nun ein wendiger Abfangjäger oder ein treffsicherer Erdkämpfer vorzuziehen sei.

Und die Konkurrenz aus Altenrhein stachelte nicht an, sondern stach aus: Walter Dürig, von 1987 bis 1989 Kommandant der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen, tritt 1951 als junger Ingenieur und Leutnant ins Instruktorenkorps der Fliegertruppen ein. Rückblickend schreibt er 2002: «Die aktive P-16-Lobby aus der Ostschweiz wirkte im Hintergrund am Begräbnis des N-20-Projekts mit.» Zudem «liessen sich [einzelne Milizangehörige der Fliegertruppen] als Lobbyisten einspannen und agitierten gegen die Verwaltung und die Führung der Fliegertruppen». Aber auch Letztere kritisiert Dürig, wenn er die Planung der Kampfflugzeugbeschaffungen in den fünfziger Jahren allgemein als «chaotisch und nicht unter Kontrolle des Kommandanten» bezeichnet. Seit Anfang 1953 heisst dieser Etienne Primault. Er wird dann beim Kauf des Mirage einen grossen Auftritt haben (siehe nächste Folge dieser Serie).

Ein paar kleine Hüpfer auf der Piste - höher schaffts der N-20 nicht. Das ist bitter für die Leute in Emmen, die teilweise seit 1945 an diesem Projekt gearbeitet haben. Einmal nur möchten sie ihn am Himmel sehen. Aber obwohl sie eigene Zeit und eigenes Geld aufwenden wollen, verweigert das EMD die nötige Starterlaubnis. Etliche Mitarbeiter verlassen daraufhin den Betrieb. Das N-20-Programm hat insgesamt 14,021 Millionen Franken gekostet.

Viel gewagt und dann den Mut verloren und aufs scheinbar sichere Pferd gesetzt - für den P-16 scheinen der Weg und die Mittel jetzt frei zu sein. Doch die Probleme, die den N-20 am Boden festhielten, werden auch dem Ostschweizer Projekt zu schaffen machen.

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In Altenrhein sind sie seit dem Ende des N-20 überzeugt: Der P-16 wird der erste helvetische Kampfjet sein. Die Signale aus Bern sind klar: Das Militärbudget 1954 enthält zusätzlich zu den bisher bereits gesprochenen 10,8 Millionen Franken nochmals 3,4 Millionen für den P-16. Die FFA bauen damit zwei Prototypen - eine Garantie, dereinst in Serie produzieren zu können, gibt es aber nicht.

Der P-16 ist mit Ausnahme der Flügelkonstruktion nicht sehr fortschrittlich, doch er kommt gut mit den speziellen Bedingungen in der Schweiz zurecht. Er startet und landet auf kurzen Pisten, dank Doppelpneus und eines besonders stabilen Fahrgestells auch auf Rasen. Zudem ist er einfach und damit auch für Milizpiloten gut zu fliegen. Gerät er ins Trudeln, reicht es, den Steuerknüppel loszulassen, der P-16 bringt sich selber wieder in eine sichere Fluglage. Die Testpiloten sagen, er sei treu.

Vollständig schweizerisch ist der Jet allerdings nicht. Die Triebwerke kommen von ennet dem Kanal. Während Testpilot Hans Häfliger in einem Hunter das gewünschte Modell Armstrong Siddeley Sapphire über Britannien probefliegt, erreicht er am 6. April 1955 als erster Schweizer Überschallgeschwindigkeit. Wieder in der Schweiz, gelingt ihm am 25. April der erste Flug mit dem ersten der zwei Prototypen (Werknummer 01). Weniger erfolgreich ist der 22. Flug, er endet am 31. August 1955 nach einer Störung im Treibstoffzufuhrsystem, die durch eine defekte Schweissnaht verursacht wird, und darauf folgendem Triebwerkausfall 200 Meter vom Ufer entfernt im Bodensee. Häfliger ist dabei auch der erste Schweizer, der sich mit dem Schleudersitz retten kann.

Das Flugzeug liegt 35 bis 38 Meter unter der Seeoberfläche, das Triebwerk bohrt sich drei Meter in den Seeboden. Dennoch soll das wertvolle Wrack geborgen werden. Dafür engagieren die FFA den Suhrer Garagenbesitzer Martin Schaffner, im Volksmund «Bomber-Schaffner» genannt, der gerade dabei ist, hauptsächlich von den Alliierten im Zweiten Weltkrieg im Bodensee parkierte Bomber herauszufischen. Die Bergung ist kompliziert, gelingt schliesslich dank eines deutschen Tauchers und ist mit 40000 Franken ziemlich teuer.

Dass Prototypen abstürzen, gehört zu ihrer Daseinsberechtigung. Die Fehler, die zu Unfällen führen, sollen dann in den Serienmodellen nicht mehr passieren - sonst könnte ja direkt mit der Serienproduktion begonnen werden. Doch die öffentliche Aufmerksamkeit für die ungewohnten eigenen Kampfjetbemühungen ist in der Schweiz viel grösser als anderswo.

Die Schweizer Zeitungen reagieren bereits bei diesem ersten Absturz heftig, auch Politiker äussern Zweifel am Projekt. Das PR-Büro Rudolf Farner interveniert, versucht, den Zwischenfall zu bagatellisieren, kann die Bodenseewogen aber nicht ganz glätten. Dennoch bewilligen die eidgenössischen Räte am 15. März 1956 weitere 17,6 Millionen Franken für eine Vorserie von vier P-16.

In Altenrhein wähnt man sich auf Kurs. Häfliger durchbricht am 15. August 1956 mit dem zweiten, verbesserten Prototypen (Werknummer 02) im Stechflug die Schallmauer; wieder am Boden sagt er: «In der Tat muss es dann unten einen mächtigen Doppelknall, den ersten ‹made in Switzerland›, gegeben haben, was bekanntlich den untrüglichen Beweis für das Erreichen der Schallgeschwindigkeit darstellt.»

Zu wenig schnell geht es dem Bundesrat. Er reagiert am 7. Dezember 1956 ungeduldig auf die Ungarn- und die Suezkrise: Da der P-16 erst frühestens 1960 ausgeliefert werden könne, will er für hundert Millionen Franken vierzig französische Mystère IVa beschaffen; die nationalrätliche Militärkommission streicht den Posten dann aber aus der Vorlage.

Vom 2. bis 16. März 1957 testen Armeepiloten den P-16-Prototypen. Ihr Urteil ist vernichtend: «Das Flugzeug P-16 besteht auf alle Fälle heute noch zu achtzig Prozent aus Versprechungen. An der Möglichkeit, im Jahre 1960 mit dem P-16 ein dann modernes und leistungsfähiges Flugzeug für unsere Flugwaffe zu erhalten, wird gezweifelt, wir glauben vorläufig nicht daran.» Dafür glauben sie an die nächste Kampfjetgeneration, die bald zu kaufen sein wird. Den P-16 sehen sie höchstens als gleichwertig mit dem günstigeren Hunter; als nächstes Flugzeug möchten sie zum Beispiel den sehr viel schnelleren und mit Lenkwaffen ausgerüsteten Mirage kaufen. Und fliegen.

Auch die FFA wissen, dass ihr Jet von den Flugleistungen her noch nicht genügt. Sie bauen deshalb in den ersten P-16 der Vorserie ein stärkeres Sapphire-Triebwerk ein, die Werknummer 03 startet erstmals am 15. April 1957. Nach weiteren Testflügen und Modifikationen wird daraus die definitiv für die Produktion vorgesehene Serienversion des P-16, die der Nationalrat am 19. März 1958 in hundertfacher Ausführung für 407 Millionen Franken bestellt.

Der P-16 bleibt indes in den Schlagzeilen. Der Experten und Lobbyisten sind viele: Die einen sehen im P-16 einen topmodernen, ja der Konkurrenz weit enteilten Kampfjet mit idealsten Eigenschaften für die Schweizer Flugwaffe, der seine Aufgabe, Ziele am Boden zu bekämpfen, bestens meistere. Andere monieren dagegen, der P-16 erfülle das Pflichtenheft nicht, sei zu langsam und viel zu teuer, schneide im Vergleich zur direkten Konkurrenz, die insbesondere einen viel engeren Kurvenradius fliegen könne und deshalb im Luftkampf dem P-16 völlig überlegen sei, schlecht ab, ja es sei sowieso vermessen zu glauben, in der Schweiz könne zu vernünftigen Preisen ein taugliches Militärflugzeug hergestellt werden.

Das Thema beschäftigt das ganze Land, wie eine Karikatur in der «Weltwoche» vom 7. März 1958 belegt: In einem Wohnzimmer argumentieren fünf Männer, die fast aus ihren Sesseln springen, heftig und mit verärgerten Gesichtern, im Hintergrund sitzen ihre stummen, resignierten Gattinnen auf dem Sofa; die Gastgeberin fragt ihren schmunzelnden Mann: «Wer hat wieder von dem P-16 zu reden angefangen? Natürlich du, Peter!»

Aufschlussreich ist ein Papier aus dem Militärdepartement vom 8. Februar 1960, das sich rückblickend mit der Frage «Weshalb nicht P-16?» beschäftigt. 1958 habe man begonnen abzuklären, ob nach dem P-16 «eine Anzahl Hochleistungsjäger zu beschaffen» sei, da der P-16 ja nur für die Bekämpfung von Bodenzielen tauge. «Es erwies sich dabei, dass die ursprünglich vorgesehene Beschaffung eines reinen Erdkampfflugzeuges (P-16) sowie daneben einer Anzahl Hochleistungsjäger finanziell untragbar wäre. [...] Es musste [also] beim Verzicht [auf den P-16] bleiben, und es musste die Beschaffung eines Flugzeuges an die Hand genommen werden, das sich eignet sowohl für die Bekämpfung von Bodenzielen als auch für den Kampf gegen Feindflugzeuge in der Luft [...].» (Was daraus wurde, zeigt die vierte Folge dieser Serie.)

Wie beim N-20 ist während der gesamten Entwicklungszeit tatsächlich nie wirklich klar, welchen Anforderungen der fertige P-16 zu genügen hat. Der Flugzeugstatiker Eduard Amstutz schreibt am 17. März 1958 in der Zeitschrift «Flugwehr und -technik»: «Was in der Tat den Erfolg einer Eigenentwicklung von Militärflugzeugen in der Schweiz von jeher am meisten gefährdet hat, das ist in den vergangenen Wochen und Monaten deutlicher als je an den Tag gekommen. Es ist das Wirrwarr der Auffassungen über die für unsere Landesverteidigung zweckmässigen Flugzeugtypen [...]. Wissen, was man will, war nie die Stärke unserer Fliegertruppe.»

Eine Woche später, am 25. März 1958, stürzt der zweite P-16 bei seinem 102. Testflug wie eingangs geschildert in den Bodensee. Damit liegen zwei von drei fertigen P-16 im Wasser. Für die Presse ist nun alles klar. Hier stellvertretend der Kommentar des «Luzerner Tagblatts» vom 26. März 1958: «Mit ihnen sind auch viele Millionen Franken Bundes- und Steuergelder in den Fluten des Bodensees versunken. Wenn das so weiter geht, wird unsere Armee noch lange, sehr lange auf die bestellten Modelle ‹made in Switzerland› warten müssen. Sie hat ja schliesslich nicht Unterseeboote für das Schwäbische Meer, sondern Flugzeuge für den Kriegseinsatz in Auftrag gegeben.» Immer wieder wird die miserable Absturzquote von 67 Prozent erwähnt. «Soll man da noch grosses Vertrauen haben können?», fragt sich im «Bund» FDP-Nationalrat Walo von Greyerz.

Nur der «Nebelspalter» kommentiert etwas nüchterner: «Nicht nur der P-16, auch Hunter, Venom und andere stürzten bei Probeflügen ab: Die frömde gheie vorderhand / Bim abegheie gäng ufs Land / Der hiesig gheit is gäng i See / Dasch nid erloubt bim EMD!» Die «Thurgauer Zeitung» titelt lokalpatriotisch: «Ein ungeheurer Pechfall für die Verteidiger des P-16».

Der Bundesrat gibt dem Druck am 2. Juni 1958 nach und storniert die Bestellung. EMD-Chef Paul Chaudet versucht am 5. Juni im Nationalrat den bundesrätlichen Verzichtsentscheid zu rechtfertigen. Eine aufschlussreiche Veranstaltung, die zeigt, dass der P-16 weniger an konkreten Mängeln gescheitert ist als sich im Dickicht der Partikularinteressen verflogen hat.

Chaudet wirft den FFA vor, sich «eigenmächtig» über vereinbarte Vorschriften hinweggesetzt zu haben, die zu «Terminverschiebungen von etwa zwei Jahren» geführt hätten. (In der Folge wird das Problem in sechs Monaten gelöst sein.) «Das ist jedoch völlig untragbar. Eine der wesentlichsten Voraussetzungen für unseren Auftrag zur Beschaffung von hundert P-16 - Ablieferung vor 1962 - war damit nicht mehr gegeben.» Zudem sei der P-16 teurer geworden.

Beim Entscheid mitgespielt, räumt Chaudet ein, hätte aber auch «das geringe Vertrauen, das dieses Flugzeug in der Öffentlichkeit, zum Teil auch in Pilotenkreisen, geniesst». Zwar sei er, zusammen «mit den Technikern und Sachverständigen» der Meinung, dass der P-16 «besser ist als sein Ruf». Aber: «Weitere Zwischenfälle mit dem P-16, Zwischenfälle, wie sie bei jeder Flugzeugentwicklung zu erwarten sind und in jedem Flugbetrieb vorkommen, müssten so zu Erschütterungen des Vertrauens führen, die weit über den technischen Anlass hinausgehen könnten und sich in ihrem Schlusseffekt nicht nur für das P-16-Geschäft, sondern für die ganze Landesverteidigung verhängnisvoll auswirken würden.» Schliesslich beanstandet Chaudet auch noch, die FFA arbeiteten nicht kooperativ genug mit dem eidgenössischen Flugzeugwerk Emmen zusammen.

Nur ein einziges Argument für den P-16 lässt Chaudet gelten: Da unsicher sei, wie lange die Vollbeschäftigung in der Schweiz andaure, gehe er mit Nationalrat und SP-Präsident Walther Bringolf einig, dass die P-16-Bestellung Arbeitsplätze sichere. Chaudet: «Die Möglichkeit, dass Werktätige mit dem Verzicht auf den P-16 ihr Brot verlieren könnten, stellt sich plötzlich in ihrer ganzen Schwere.» Doch der Bundesrat sei da machtlos - immerhin sei zu hoffen, dass «in einer nicht allzu fernen Zukunft» in der Schweiz ausländische Maschinen in Lizenz gebaut würden.

FDP-Bundesrat Chaudet resümiert: «Ich stelle [...] fest, dass dem P-16 eine faire Erfolgschance gegeben wurde. [...] Wie ein Bergsteiger, der die Verantwortung für seine Seilgefährten trägt, gezwungen sein kann, in Gipfelnähe umzukehren, kann das Leben einen vor die Alternative eines sturen Festhaltens am einmal gefassten Entschluss oder des Verzichtes stellen. Wenn die Pflicht den Verzicht gebietet, darf man nicht zögern, ihr zu folgen, auch wenn die Umkehr schmerzlich ist.»

Trotz der Anschuldigungen Chaudets gibts in der Folge keine disziplinarischen oder strafrechtlichen Schritte gegen die FFA. Die St.Galler Regierung, die Massenentlassungen befürchtet, schlägt dem Bundesrat vor, die Vorserie fertig zu bauen, auch um die Fachleute zu halten, bis allenfalls ein Lizenzbau beginnen kann - vergeblich. Tatsächlich stellen die FFA in der Folge mehrere Hundert MitarbeiterInnen auf die Strasse.

Die Wut gegen den unverständlichen Entscheid aus Bern sitzt in der Ostschweiz bei einigen Leuten tief. Noch im August 1980, als ein P-16 feierlich ins Fliegermuseum Dübendorf gerollt wird, schreibt CVP-Nationalrat Edgar Oehler (heute Unternehmer und Präsident des FC St. Gallen) in der «Rorschacher Zeitung»: «Der verstorbene Bundesrat Paul Chaudet wird vermutlich seine Freude an seinem ‹Erfolg› gehabt haben, denn auf diese Weise hat er nicht nur einen Unternehmer und seine Mitarbeiter, sondern eine Industrie in die Knie gezwungen. Aber auch eine ganze Region um einen äusserst wichtigen Zweig geprellt. [...] Mögen ihm die politischen Rahmenbedingungen und der Krämergeist von damals Applaus eingebracht haben, richtig war das Verhalten nicht [...].»

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Die FFA geben im Sommer 1958 noch nicht auf. Sie versuchen, den P-16 auf dem internationalen Markt zu verkaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt sind für das Kampfjetprojekt rund sechzig Millionen Franken an Bundesgeldern nach Altenrhein geflossen. Aus Bern erhalten die FFA nach dem Verzichtsentscheid eine Barabfindung von einer Million Franken, und sie dürfen noch nicht verwendetes Material im Wert von ein bis zwei Millionen Franken behalten. Falls der P-16 doch noch verkauft werden könnte, müssten die FFA nach einem vereinbarten Schlüssel Geld an die Eidgenossenschaft zurückzahlen.

Die zweite Maschine der Vorserie (Werknummer 04) startet mit ziviler Immatrikulation am 8. Juli 1959 zum Erstflug, am 24. März 1960 folgt ein weiterer P-16 (Werknummer 05), beide mit überarbeitetem Hydrauliksystem. Bern wird laufend über alle Fortschritte informiert, Firmenchef Claudio Caroni will, dass der Bund den verbesserten P-16 noch einmal prüft. Entsprechende Anfragen bleiben aber unbeantwortet, auch die begeisterte Reaktion des US-amerikanischen Testpiloten Bill Lear hilft nicht.

Die fünf P-16 absolvieren bis zum 26. Juni 1960 total 508 Flüge und sind dabei 233 Stunden und eine Minute in der Luft. Nachher entstehen nur noch Studien, etwa 1964 für den AR-7: einen P-16 mit einem stärkeren Rolls-Royce-Doppelstromtriebwerk. Im März 1965 finden die FFA und die US-amerikanische Firma General Electric zusammen: Das Pentagon interessiert sich für den aus dem AR-7 weiterentwickelten und auf dem Reissbrett mit einem General-Electric-Düsentriebwerk versehenen AJ-7, kauft ihn dann aber doch nicht. Periodisch taucht der P-16 in den sechziger Jahren auch in der hiesigen Debatte wieder auf. Aber 1969 wird das Projekt endgültig aufgegeben.


Seit dem Ende von N-20 und P-16 ist in der Schweiz nie mehr ernsthaft erwogen worden, ein eigenes Kampfflugzeug zu bauen. Sind die bewaffnete Neutralität und also die Schweiz als unabhängiger Staat der freien Bürgersoldaten dadurch nicht unglaubwürdig geworden? Niemand fragt damals so. Stattdessen gilt plötzlich eine neue Maxime: Wichtig ist nicht mehr, woher die Flieger kommen, sondern nur noch, wie toll sie sind. Der Beste ist grad gut genug. Zum Beispiel der französische Mirage. Respektive Hunderte davon.

Die WOZ bringt eine fünfteilige Serie zur Geschichte der Schweizer Kampfflugzeuge. Bereits erschienen: «Die zwei Gründungen», WOZ Nr. 50/07; «Die Fliegertruppe im Zweiten Weltkrieg», Nr. 3/08.

In der nächsten Folge:

Der Mirageskandal: Was passiert, wenn die Militärs nach eigenem Gutdünken Kampfflugzeuge einkaufen dürfen. Und wie der Mirage die Schweizer Atombombe abschiesst.

Die FFA

Am Anfang steht der Versailler Vertrag: Die Flug- und Fahrzeugwerke AG (FFA) gibt es nur, weil es der am Ende des Ersten Weltkriegs von den siegreichen Alliierten diktierte Vertrag Deutschland verbietet, selber Flugzeuge zu bauen. Deshalb verlegt Claudius Dornier, unterstützt von deutschfreundlichen Schweizer Offizieren, die Endmontage von in Friedrichshafen fabrizierten Flugzeugteilen nach Altenrhein auf der anderen Seite des Bodensees. Ab 1927 wird - unter dem Namen Dornier-Werke Altenrhein AG - montiert, etwa 1929 das weltweit für Aufsehen sorgende zwölfmotorige Riesenflugboot Do-X für 170 Passagiere.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Firma schweizerisch, der Tessiner Claudio Caroni (1907-1984) zum umtriebigen Chef (er übernimmt 1948 die Leitung und kauft 1952 den Betrieb). Ab 1949 heisst das Unternehmen FFA. 1958 hat es kurz vor dem geplanten Start der Serienproduktion fast 1600 MitarbeiterInnen. 1987 verkauft Caronis Sohn Luciano die Firma an Schindler. Die Flugwerke werden aufgeteilt; die Fahrzeugsparte, die lange Zeit zu den wichtigsten Lieferantinnen der SBB gehört hat, geht 1997 an die Stadler Rail.

Der nächste Kampfjet

Die Offertanfragen für einen neuen Schweizer Kampfjet sind verschickt. Das Militärdepartement hat vier Rüstungsfirmen eingeladen, bis Mitte Jahr erste Angebote zu machen. Im Herbst sollen die verschiedenen Modelle dann testgeflogen werden, im Jahr 2010 ist das Geschäft im eidgenössischen Parlament traktandiert.

Bereits am 24. Februar wird über die Initiative «Gegen Kampfjetlärm in Tourismusgebieten» abgestimmt. Der volle Wortlaut der Franz-Weber-Initiative: «In touristisch genutzten Erholungsgebieten dürfen in Friedenszeiten keine militärischen Übungen mit Kampfjets durchgeführt werden.» Das Militärdepartement sieht im Fall einer Annahme der Initiative gleich die ganze Armee in Frage gestellt. Der neue Armeechef Roland Nef etwa sagte, die Neutralität sowie die Sicherheit der Schweiz seien gefährdet.



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