Radiohead: Pop zu verschenken

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Die Band sorgte im Musikbusiness für Entsetzen, als sie ihr neues Album ohne Mithilfe einer Plattenfirma zum Gratisdownload freigab. Inzwischen stehen auch die konventionelle CD sowie die nostalgische LP in den Läden, und die Deluxe-Box ist ausgeliefert.

Radiohead hätte den Publicityrummel gar nicht bezahlen können, den ihre Ankündigung Anfang letzten Oktober auslöste, das neue Album «In Rainbows» werde vorerst nur als Internet-Download veröffentlicht. Den Preis könnten die Interessierten frei bestimmen, und auch eine Null werde akzeptiert.

Die Band war zu diesem Zeitpunkt bei keiner Plattenfirma unter Vertrag. Die Verbindung mit EMI Records war mit dem Erscheinen der CD «Hail to the Thief» von 2003 ausgelaufen. Während sich EMI noch bemühte, einen der wenigen ihr noch verbliebenen sicheren Werte weiterhin an sich zu binden, hatte Radiohead-Sänger Thom Yorke schon ein Jahr früher, beim Erscheinen seiner Solo-CD «The Eraser», Bedenken über die Entwicklung bei den Majorlabels angemeldet. «Wir kennen bei EMI viele tolle Leute, die uns mächtig unterstützt haben», sagte er. «Aber inzwischen arbeiten nicht mehr halb so viele Leute dort, niemand hat mehr Zeit. Dafür ist in den Chefetagen alles aus Marmor. Die Struktur ist topheavy. Da muss man sich schon fragen, was man da noch soll.»

Indem man «In Rainbows» auf eigene Faust veröffentlichte, umging man jedes Frustpotenzial. Hätte man auf einen Vertragsabschluss bei einem grossen Label gewartet, wäre das Album monatelang im Gestell gestanden, ehe Verkaufsstrategie, Promotourneepläne und Langzeittaktik ausgearbeitet worden wären. So aber musste die Band keinerlei Beschränkungen in Kauf nehmen. «Es war», strahlt Bassist Colin Greenwood, «wie wenn man nach zwei Jahren die Tür zum Studio aufgerissen hätte, und da wäre eine Million Menschen gestanden, und denen hätte man nun sein neues Album in die Hand gedrückt. 'Hier ist es!' Ganz direkt. Ohne Vermittlung durch Medien, Plattenläden und all den Kram. Wir - Computer - Internet, and that's it.»

Gratis oder Deluxe

Mindestens eine Million, möglicherweise zwei Millionen Mal soll das Album heruntergeladen worden sein - die genaue Abrechnung liegt noch nicht vor. Parallel dazu wurde das Album als Deluxe-Box-Set für 40 englische Pfund (90 Franken) online angeboten und 60 000 bis 80 000 Mal abgesetzt. Nur schon die Einnahmen aus den Box-Sets belaufen sich auf 2,4 bis 3,2 Millionen Pfund (zirka 5 bis 7 Millionen Franken), die sich Radiohead mit keinem Plattenlabel teilen muss.

Als der Rummel um den Download vorbei war, unterschrieb man wie von Anfang an angekündigt doch noch einen konventionellen Plattenvertrag, und zwar mit dem Independent-Label XL, wo schon Yorkes Soloalbum erschienen war. Bezeichnenderweise standen die gleichen Plattenfirmen Schlange, die Radiohead früher vorgeworfen hatten, der Gratisdownload würde im Publikum das Gefühl noch vertiefen, dass Musik nichts koste.

«Wir hatten erwartet, dass nach dem Download viele Firmen nicht mehr an einem Deal mit uns interessiert wären», sagt Gitarrist Ed O'Brien. «Aber genau das Gegenteil passierte. Die Firmen waren schärfer auf uns als vorher!» Anfang Jahr ist nun auch noch die konventionelle CD-Version von «In Rainbows» erschienen. Die Statistiken zeigen, dass das «Verschenken» von Downloads dem Geschäft nicht abträglich sein muss: Die CD liegt momentan in Amerika, Kanada, Grossbritannien und Irland auf Platz eins in den Charts - in der Schweiz startete «In Rainbows» auf Platz achtzehn, war bald auf Rang zwei und liegt momentan auf Rang sechs. Die Verkäufe während der ersten beiden Wochen liegen zwar deutlich unter den Vergleichswerten für «Hail to the Thief» von 2003, aber wenn man die bezahlten Downloads mit einrechnen würde, wären sie mindestens ebenbürtig. Nur kassiert die Band jetzt wesentlich mehr Zaster.

Alles wieder offen

Radioheads eindeutig geglückter Versuch mit selbst gesteuerten Downloads ist nur einer von vielen Versuchen, im derzeitigen Strukturenzerfall zwischen physischem und virtuellem Produkt neue Wege zu finden, den Lebensunterhalt mit Musik zu verdienen. Dass in dieser Situation nichts garantiert ist, zeigt das Beispiel von Nine-Inch-Nails-Kopf Trent Reznor. Dieser startete letztes Jahr ein Plattenlabel und veröffentlichte das Album «The Inevitable Rise and Liberation of Niggy Tardust» von Hip-Hop-Sänger Saul Williams. Es konnte von Reznors Website heruntergeladen werden, wobei eine Version mit etwas schlechterer Soundqualität gratis war und eine bessere Version bescheidene fünf US-Dollar kostete. 154 449 Mal bediente man sich der Gratisversion - im Vergleich hatte sich Williams letztes Album bloss 33 897 Mal verkauft. Aber nur 28 322 bezahlten für die bessere Version. Einen Schluss daraus zu ziehen, ist schwierig, es könnte ja einfach sein, dass das Album nicht die Erwartungen erfüllte.

Einen anderen Weg haben zum Beispiel die Einstürzenden Neubauten, die schottische Ex-Hitparaden-Band Marillion oder die Bigband-Leaderin Maria Schneider begangen: Fans können eine CD zum Voraus bestellen und bezahlen, die Band finanziert so die Aufnahmen.

Die britische Website www.slicethepie.com ist eine Web-Plattform, die auf ähnlicher Basis funktioniert: Bands laden ihre Demoaufnahmen auf einen Server, das Publikum hört sich diese an, gibt Kritiken ab (für die es eine kleine Bezahlung gibt) und investiert in die Bands, die gefallen. Sobald genug Miniinvestoren zusammengekommen sind, darf die Band ins Studio und muss für ein fertiges Album garantieren. Der englische Saxofonist Paul Dunmall setzt seit Jahren aufs Abonnementmodell: Alle paar Monate verschickt er für zehn englische Pfund eine selbst gebrannte CD-R an seine AbonnentInnen.

Prince, Madonna und der Rest

Ein wichtiger Nebeneffekt der neuen Downloadkultur ist der Zerfall des Konzeptes Album, denn die konventionellen, legalen Download-Sites zählen in Einzelstücken. Die nordirische Band Ash hat dem Rechnung getragen, indem sie mit ihrer Plattenfirma Warners einen neuen Vertrag ausgehandelt hat, der von ihr keine Alben mehr verlangt, sondern eine übers Jahr verteilte Serie von Songs, die jeweils sogleich als Downloads zugänglich gemacht werden.

Andere KünstlerInnen - vor allem solche, die etabliert sind - suchen Wege, ihre Musik quasi auf dem Rücken eines anderen Produktes loszuwerden. Paul McCartney hat sich beim neuen «Label» Starbucks der gleichnamigen Kaffeehauskette verdingt und Madonna sich mit dem konservativen amerikanischen Konzert- und Radiomoloch Live Nation zusammengetan.

Dass KünstlerInnen immer wieder einzelne Songs, Konzerte oder Übungsraumsessions auf ihre Website stellen, ist keine Seltenheit mehr - das Spektrum reicht von Indiebands wie The Bees und Ocean Colour Scene bis Ex-Byrd Roger McGuinn. Die englischen Charlatans verschenken ihr nächstes Album über die Website der Indieradiostation «xfm». Prince, Ray Davies, Mike Oldfield und andere legten in den letzten Monaten britischen Sonntagszeitungen ganze Alben gratis bei.

Die Resultate waren unterschiedlich: Prince kassierte für seine Geste eine Million US-Dollar (inklusive der mechanischen Tantiemen für die CDs). Das ist viel, viel mehr, als der verblichene Star bei einer konventionellen Verkaufsstrategie hätte herauswirtschaften können. Zusätzlich profitierte er gewaltig von dem positiven Werbeeffekt für seine 21-tägige Konzertserie im vergangenen August in London. Mike Oldfield andererseits regte sich auf über die Beilage, über die er offenbar nicht informiert worden war. Und für Ray Davies war es ein Eigentor: Von seiner letzten CD waren in der Erscheinungswoche nahezu 30 000 Stück verkauft worden, genug, um die Top 30 zu erreichen. Das neue Werk «Working Man's Café» brachte es während der Erscheinungswoche noch auf 1067 Verkäufe und Rang 179.

Plattenläden als coole Treffs

Die Situation betreffs legaler Download-Sites ist noch alles andere als klar. Allein in Europa sind derzeit 285 Download-Stores aktiv - alle mit ungefähr gleichem und leider meist beschränktem Angebot (positive Ausnahme: eTunes - www.etunes.com). Aus den USA kommt SpiralFrog, eine Website, von der die KonsumentInnen Musik ganz legal gratis herunterladen können - allerdings müssen sie dazu einen Werbespot über sich ergehen lassen.

Die grossen Leidtragenden vom legalen und illegalen Download-Boom sind aber weniger die Plattenfirmen als die Plattenläden. Während die Plattenfirmen vermehrt versuchen, sich mit sogenannten «360-Grad-Verträgen» schadlos zu halten, mittels derer sie Kontrolle über Management, Konzerte, Merchandise und andere Aspekte einer Popkarriere erlangen, sind die herkömmlichen Plattenläden verloren, wenn sie nichts mehr haben, das sie im Gestell präsentieren können. Ein Ausweg ist es, den Plattenladen - wie in den Sixties und bei den Punks - zum coolsten Treffpunkt der ganzen Stadt zu machen. So geschehen mit dem neuen Rough-Trade-Laden an der Londoner Brick Lane, wo es nicht nur die besten CDs und Platten in der ganzen Stadt gibt, sondern auch Kaffee, Kuchen, Wi-Fi-Anschluss, bequeme Sofas - und viele musikinteressierte KundInnen.