Schluss mit der Stildebatte: Schufte voller Anstand

Nr. 16 –

Letzten Freitag jubelten Bürgerliche und Linke gemeinsam Eveline Widmer-Schlumpf zu und forderten mehr Anstand - kurz nachdem die Justizministerin ihr hartes Programm vorgestellt hatte. Sehnen sich alle die fünfziger Jahre zurück?

Und dann kam sie doch noch, und 12 000 Menschen jubelten, reckten die Fäuste in den nassschweren Himmel und waren glücklich. Sie war gekommen, ihre Eveline. Vor ihr teilte sich das Meer aus Regenschirmen, Gesichtern und Schildern, auf denen stand: «Eveline Widmer-Schlumpf: No surrender!», ergib dich nicht, Eveline! Und ihr, Eveline, standen die Tränen in den Augen. Sie sagte: «Ich fühle mich getragen.»

Vier Stunden früher hatte Eveline Widmer-Schlumpf über ihre ersten hundert Tage als Bundesrätin Bilanz gezogen. Sie stand in einem strengen Kostüm sehr aufrecht vor der Presse. Sie sprach frei, sie kannte ihren Text auswendig, und das in allen vier Landessprachen. Sie gestattete sich kaum ein Lächeln. Ihr Blick war fest. Ihre Umgänglichkeit zeigte sich darin, dass sie ihre politischen GegnerInnen nicht beim Namen nannte und immer beim kollektiven «Wir» blieb, «wir möchten». Das einzige Zeichen von Unsicherheit war eine Büroklammer, die sie zwischen ihren Fingern drehte und drehte. Visionen, sagte sie, lägen ihr nicht. Auf Fragen zu den Umständen ihrer Wahl antwortete Widmer-Schlumpf - die Bundesratstochter, Juristin, dreifache Mutter, erste Regierungsrätin Graubündens, Präsidentin der Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren, Angehörige des Bankrats der Nationalbank - höflich und kurz.

Eines machte sie klar: Sie wird dem Druck ihrer Partei standhalten. Sie wird weiterkämpfen. So, wie sie seit dreissig Jahren für die SVP kämpft. Für Freiheit, Sicherheit, Eigenverantwortung.

Wie ein Pfeiler im Strom

Und sie machte klar, gegen wen sie kämpfen wird: Gegen delinquente Jugendliche, straffällige AusländerInnen, eritreische Deserteure, politisch aktive Asylsuchende. Sie nannte Beispiele: Ja, straffällige ausländische Jugendliche sollen gemeinsam mit ihren Eltern ausgeschafft werden. Bei Einbürgerungsgesuchen, insbesondere von Jugendlichen, sollen Polizei, Gerichts- und Schulbehörden noch intensiver zusammenarbeiten, um den «Integrationsstand» besser überprüfen zu können. Und wenn AusländerInnen keinen Deutschkurs besuchen wollen, sollen sie ausgewiesen werden. Bei den Bundesfinanzen will sie weiter sparen. Den einzigen «Spielraum», den sie schaffen will, ist derjenige für Unternehmen.

Widmer-Schlumpf stand also aufrecht vor der Presse und sprach von der Zunahme der organisierten Kriminalität, dem Anwachsen des Kriminaltourismus, von gewalttätigem Extremismus, von Missbrauch, Terror, von Gewaltpropaganda und Gewalt. Stand da wie ein Pfeiler, bedroht, aber trotzig im breiten Strom der Gefahren.

Was unterscheidet Eveline Widmer-Schlumpf von Christoph Blocher? An diesem Freitag auf dem Bundesplatz war ein Wort in aller Munde, es wurde auf Schildern getragen, von der Bühne gesprochen, es wurde bejubelt: Anstand. Eveline, die den Anstand in die Politik zurückträgt. Eveline, die Anständige.

Und dann geschah etwas Seltsames: Nicht nur Bürgerliche, sondern auch Linke und Grüne applaudierten dieser stramm rechten Justizministerin. Sie waren aus der ganzen Schweiz gekommen, um an der von der Frauendachorganisation Alliance F organisierten Demonstration teilzunehmen. Auf der Bühne sprach Cécile Bühlmann, ehemalige Nationalrätin der Grünen. Alt Nationalrätin Leni Robert (Freie Liste) zitierte Martin Luther King: «Es geht nicht nur um die Taten der Bösen, sondern um das furchtbare Schweigen.» CVP-Präsident Christophe Darbellay brüllte «Jugendgewalt, innere Sicherheit, Kriminalität: Diese Probleme wirst du lösen! Forza Eveline!» Und Applaus brandete auf im Publikum, auf das kalter Regen fiel.

Salonfähige Parolen

Vor allem Frauen standen auf dem Bundesplatz, viele von ihnen trugen weisse Locken und hatten sich fein gemacht. Sie alle empörten sich, dass die SVP Widmer-Schlumpf zum Rücktritt und zum Parteiaustritt zwingen will. Sie waren gekommen, um ein Zeichen zu setzen für eine «anständige politische Kultur». Im Demo-Aufruf hiess es: «Wir distanzieren uns von Chaoten und Randalierern.» Was alle verband, war der Wunsch nach Anstand. Und der rüpelhafte Feind. Gib nicht auf, Eveline!

Und so wird Eveline Widmer-Schlumpf für die SVP nicht nur die politischen Geschäfte erledigen, sie wird ihr auch neue Mehrheiten bringen. Sie, die Anständige, verleiht der harten Politik Integrität. Sie macht SVP-Parolen salonfähig. Rund 10 000 Briefe und E-Mails habe sie in den letzten Tagen erhalten, sagt ihr Pressesprecher. «Viele besorgte ältere Leute» hätten geschrieben - und Personen aller politischen Richtungen.

Was also ist besser: Die bürokratische, korrekte, unauffällige Widmer-Schlumpf oder der bellende, beleidigende Blocher? Für die politische Realität macht es kaum einen Unterschied. Besonders nicht für jene, gegen die die Politik von Furcht und Härte gemacht wird: nicht für den abgewiesenen Asylbewerber. Nicht für die Eltern des straffälligen ausländischen Jugendlichen. Nicht für die alleinerziehende Mutter. Aber auch nicht für die restliche Schweiz, die diese Politik ebenfalls zu spüren bekommt. «Manche Schufte wären weniger gefährlich, wenn sie nicht irgendwo doch anständig wären», sagte François de La Rochefoucauld in seinen «Reflexionen». Alle sehnen sich also plötzlich nach Anstand - einem Begriff, der bis vor kurzem meist von sentimentalen Konservativen und alten Frauen auf dem Land gebraucht wurde. Was meinen sie überhaupt damit? Anstand ist irgendwie moralisch, er ist bodenständig und bieder: Im 19. Jahrhundert war es der Anstand, der den gesellschaftlichen Aufstieg des ehrgeizigen und geschäftstüchtigen Kleinbürgers ermöglichte, und so war es bis in die fünfziger Jahre. Bescheiden musste man sein, fleissig und gute Manieren haben. Das Bürgertum grenzte sich durch sein «anständiges» Benehmen ab, erst gegen den Adel, dann gegen unten - die Arbeiterschaft.

In der Pose des Rebellen

Und jetzt? Ist es Zufall, dass die Abgrenzung von den SVP-Hardlinern mit dem Begriff des Anstands geschieht? Verläuft die Grenze zwischen den AnhängerInnen des Zürcher Flügels und denjenigen von Widmer Schlumpf nicht analog zur Grenze zwischen unten und der Mitte? Zwischen einer schlecht gebildeten, schlecht verdienenden Wählerschaft, die von einem weiteren sozialen Abstieg am stärksten bedroht ist - und einer Wählerschaft, die sozial und politisch eher der Mittelschicht entstammt?

Blocher und Widmer-Schlumpf vertreten beide die Interessen des Establishments. Und beide tun dies nun in der Pose des Rebellen - Blocher gegen das politische Establishment, Widmer-Schlumpf gegen das Partei-Establishment. Sie ergänzen sich perfekt. Der bürgerliche Mittelstand fühlt sich zunehmend wie die aggressiven SVP-WählerInnen: Sie fühlen sich übers Ohr gehauen, sie suchen die starke Führung und dieselben Schwächeren als Opfer. Widmer-Schlumpf liefert dasselbe wie Blocher, bloss ohne Krawalle. Beide wollen die Schweiz in die fünfziger Jahre zurückkatapultieren.

Deshalb sollte die Linke mit Stildebatten aufhören. Es geht um politische Positionen. Darum, Schwächeren Spielräume zu schaffen. Einen vernünftigen Umweltschutz. Eine klügere Kontrolle der Finanzmärkte. Einen starken Service public. Und für eine Gerechtigkeit mit Grosszügigkeit. Nicht mehr Anstand sollte man sich wünschen, sondern mehr Heiterkeit - der neue SP-Präsident Christian Levrat führt genau diese Haltung vor. Dies macht die Schweiz zu einem Land, in dem nicht so vieles bedrohlich wirkt. Dies macht glücklicher.

Es ist Zeit, Eveline Widmer-Schlumpfs Politik zu bekämpfen. Charmant, aber hartnäckig.