StadtnomadInnen: «Gib mir Geld für Drogen, Waffen und Alkohol!»

Nr. 16 –

Mit einem neuen Bahnhofsreglement will Bern die BettlerInnen vertreiben. Claudia ist eine von ihnen: Sie wohnt in einer Wagenburg und bettelt freiwillig - für ein freies Leben.

Claudia (23, Name geändert) steht vor dem Bahnhofsausgang an der Neuengasse in Bern. Auf ihrem Kopf ein mit langen Nieten besetzter Cowboyhut, darunter wilde, schulterlange Dreadlocks. Sie schaut die PassantInnen genau an und weiss, wen sie gar nicht erst anzusprechen braucht. Dann nimmt sie den Hut vom Kopf und hält ihn einem Herrn mittleren Alters hin: «Äs Räppli ids Chäppli, äs Stützli ids Mützli», trällert Claudia. Keine Reaktion. Der Mann geht an ihr vorbei, ohne sie auch nur anzuschauen.

Es ist Sonntag, kein geeigneter Tag zum «Mischeln», wie Betteln in der Szenesprache genannt wird. Claudia bettelt seit bald vier Jahren und weiss, welche äusseren Faktoren darüber entscheiden, ob Kleingeld in ihrem Hut landet oder nicht: «In den Tagen vor dem Zahltag ist es sehr schwierig», sagt die quirlige junge Frau. Auch die Jahreszeit spiele eine Rolle: «In der Weihnachtszeit bekomme ich dreimal mehr Geld als sonst.» Dafür sei dann im Januar «tote Hose».

«First come, first served»

Claudia spürt die Konkurrenz der anderen BettlerInnen. Sie müsse immer ein bisschen besser sein, sich von den anderen abheben, um «Kohle» zu bekommen. Wichtig sei gute Laune, das spürten die PassantInnen. Diese Fröhlichkeit auch an Tagen rüberzubringen, an denen es ihr nicht so gut gehe, sei sehr anstrengend. Claudia versucht es mit stets variierenden und der Aktualität angepassten Sprüchen. Dem Autor noch immer in Erinnerung ist ihr Spruch anlässlich der letzten Stadtberner Wahlen vor bald vier Jahren: «Ich bin noch korrupter, verlogener und geldgieriger. Gib mir Geld für meinen Wahlkampf!»

Heute will Claudia nur drei Franken, fürs Waschen von Kleidern. Doch das dauert. Nach etwa dreissig erfolglosen Versuchen dann ein überraschender Erfolg: «Gibst du mir Geld für Drogen, Waffen und Alkohol?», fragt sie einen Herrn. Die drei Franken sind beisammen, und die Wäsche landet in der Waschmaschine der städtischen Anlaufstelle. Jetzt hat Claudia Zeit, in einem Park an der Sonne über das Betteln zu sinnieren.

«Betteln ist schlecht für die Psyche.» Das ist Claudias Fazit nach vier Jahren Mischeln. Es sei schmerzhaft, immer wieder Beschimpfungen ertragen zu müssen oder den PassantInnen wie «stinkende Luft» lediglich ein Nasenrümpfen wert zu sein. Sie könne sich nicht wehren. «Die dreissig Leute in der Umgebung würden es hören und mir nie mehr etwas geben», so Claudia. Mit der Zeit fresse man diesen Frust in sich rein.

Neben Claudia am Boden liegen zwei ihrer drei Hunde auf ihrem Pullover, den sie trotz nicht gerade tropischer Temperaturen ausgezogen und für ihre Lieblinge ausgebreitet hat. «Ich stehe unter Druck, da ich meine Hunde nicht hungern lassen kann.» An ganz schlechten Tagen verdiene sie nur wenige Franken. Von wem kriegt sie überhaupt Geld? «Leute, denen Hunderternoten aus dem Arsch flattern, schauen mich kaum an», sagt Claudia. Wer selber finanzielle Probleme kenne, gebe eher etwas. Eine Art BettlerInnenkodex verbiete es ihr aber, von SozialhilfeempfängerInnen und anderen Benachteiligten Geld anzunehmen. Diese ungeschriebene Abmachung besage auch, dass die BettlerInnen einen gewissen Abstand voneinander einhalten müssten. «Hier am Neuengasse-Aufgang betteln in der Regel nur zwei Leute gleichzeitig», es gelte das Prinzip «First come, first served». Wer zu spät komme, müsse sich einen anderen Platz suchen.

In der Wagenburg

Claudia holt ihre Wäsche ab und führt mich zum Viererfeld - einem grossen Feld in der Nähe von Berns Zentrum, wo auch mal Schafe weiden. Hier baut die Stadt zurzeit einen Tunnel. Auf einer Länge von mehreren Hundert Metern ist der Boden aufgerissen, und das ausgehobene Material türmt sich zu monumental wirkenden Hügeln. Hier wohnt Claudia derzeit - als stolze Besitzerin eines Eigenheims. Dieses misst neun auf zwei Meter und hat Räder: Es ist ein alter Bauwagen. Claudia ist Teil einer unter dem Namen «Stadtnomaden» bekannten Berner Wagenburg. Der Name, den die Lokalmedien der Gruppe von etwa zwanzig jungen Menschen verpasst haben, ist Programm: In den drei Jahren ihres Bestehens musste die Gruppe bereits über dreissig Mal umziehen, da sie nirgends auf die Dauer geduldet wird. Claudia mag den Namen nicht: «Wir wären gerne sesshaft.»

Soeben ist wieder ein Ultimatum abgelaufen. Mit Traktoren verschieben die BewohnerInnen des mobilen Dorfs ihre Bauwagen um 200 Meter. Den kleinen Park im Besitz der Burgergemeinde müssen sie verlassen. Nächste Station der Wohnodyssee ist eine Wiese gegenüber, die ein alter Bauer vom Kanton gepachtet hat. Ein junger Mann mit langen blonden Haaren hat hier bereits begonnen, mit grossen Steinen ein kleines Gärtchen anzulegen. Er erzählt von den Verhandlungen mit dem Bauern: Zunächst sei der ihnen gegenüber skeptisch eingestellt gewesen. «Doch dann hat er unsere alten Hürlimann-Traktoren bewundert, und so sind wir ins Gespräch gekommen.» Jetzt habe er ihnen erlaubt, auf seine Wiese zu ziehen, freut sich der junge Mann. Zwei Wagen weiter schraubt eine Frau Bretter aneinander. Es entsteht ein improvisierter Zwinger für acht Mischlingswelpen, die gerade tapsig und mit grosser Neugierde die neue Umgebung erkunden.

Eigenheim mit Rädern

Mit ihrem Cowboyhut wirkt Claudia wie die Herrin der Wagenburg. Stolz zeigt sie ihren Wagen, den sie zurzeit umbaut. Für 500 Franken hatte sie ihn von einem Bewohner einer anderen Wagenburg erstanden. Seit es in ihrem Wagen gebrannt hat, arbeitet sie an einer Totalsanierung. Bereits ist der Innenraum mit Holzlatten getäfelt, und viel Licht dringt durch die neuen Dachfenster. Bis der Umbau abgeschlossen ist, wohnt Claudia mit ihrem Freund in einem anderen, kleineren Wagen. «Im Bauwagen zu leben, ist ein wahr gewordener Traum», schwärmt Claudia. Hier müsse sie auf keinen Vermieter Rücksicht nehmen, «jedes Schräublein» am Wagen dürfe sie so gestalten, wie sie wolle. Zudem könne sie, wann immer sie wolle, ihr Eigenheim an den Traktor spannen und wegfahren, in die Ferien. «Mein Leben ist ein Schneckendasein. Ich bin zwar langsam unterwegs, habe aber immer mein Haus am Rücken.»

Mit sechzehn ist Claudia von ihrem Zuhause im Zürcher Oberland abgehauen, um mit ihrem Freund durch Europa zu reisen. Zurück in der Schweiz, habe sie keine Lehrstelle antreten wollen. Mit ihrem damaligen Freund ist sie dann nach Bern gezogen, begann zu betteln und lebte in einem besetzten Haus, bis dieses abgebrochen wurde. Dann brachte sie ihr neuer Freund auf die Idee, in einen Bauwagen zu ziehen.

Das Leben im Wagen ist kein Zuckerschlecken. An den meisten Standorten gibt es keinen Elektrizitäts- und Wasseranschluss. Lastwagenbatterien und Brunnen in der Umgebung schaffen Abhilfe. «Im Winter ist es verdammt hart, aber das gehört dazu», sagt Claudia. Geheizt werden die meisten Wagen der StadtnomadInnen mit Holzöfen. Am Morgen früh kann die Wageninnentemperatur dennoch unter null Grad sinken.

Wir sitzen nun auf dem künstlichen Hügel neben dem neuen Standort und reden über Polizei und Politik. Claudia will deswegen nur unter geändertem Namen in der Zeitung erscheinen. «Die Polizisten sitzen am längeren Hebel. Wenn sie mich schikanieren wollen, dann können sie das auch.» Gerade letzte Woche habe sie in einem Lokal, wo es gute und günstige Mahlzeiten gibt, auf den Hauptgang gewartet: «Plötzlich stürmten Polizisten in Zivil mit gezogenen Pistolen in das Lokal, fesselten alle Anwesenden - auch den Koch - und legten uns Augenbinden an», erzählt Claudia. Gefunden hat die Polizei laut eigenen Angaben «kleinere Mengen Drogen». Claudia kennt das Innere des Polizeipostens sehr gut. Immer wieder werde sie verhaftet und müsse sich auf dem Posten ausziehen und abtasten lassen.

«Das ist ein Witz»

Auf Claudia kommt neues Ungemach zu: Das neue Bahnhofsreglement, über das die Stadtberner Bevölkerung am 1. Juni abstimmen wird, verbietet das Betteln im städtischen Teil des Bahnhofs - und auch im Umkreis von zehn Metern der Ausgänge. Dazu Claudia: «Das ist ein Witz. Wie wollen die das durchsetzen?» Wenn die «Schmier» komme, habe sie doch schon längst zu einem Sprung raus aus der Zehnmeterzone angesetzt. Grössere Sorgen bereitet ihr die vorgesehene Busse für «ungebührliches Verhalten». «Dann sind wir Randständigen grausamer Willkür ausgesetzt», sagt Claudia und fügt an, je nach Blickwinkel könne man es ja auch ungebührlich finden, «wenn jemand zu chic angezogen ist». Das Argument der rot-grünen Stadtregierung, BettlerInnen würden im Bahnhof im Weg stehen, hält Claudia für vorgeschoben: «Die Polizei braucht ja auch Platz zum Rumstehen und Leute-Schikanieren.» Und es gebe ja weiterhin kommerzielle und bewilligte Bettelstände. Für sie sei klar, dass es hier darum gehe, das Stadtbild für TouristInnen aufzuwerten. «Für mich wird es wohl unmöglich, mich im neuen Bahnhof auch nur aufzuhalten.»

Die psychische Belastung beim Betteln hat dazu geführt, dass Claudia nun lieber arbeiten will. Das Problem: Eine Postfachadresse auf Bewerbungsschreiben fällt potenziellen ArbeitgeberInnen sofort auf. «Sobald ich erzähle, wie ich wohne, bin ich abgestempelt», sagt Claudia. Arbeit hat sie dennoch gefunden. Im Rahmen eines Arbeitsprogramms hilft sie nun tageweise beim Abbrechen von Häusern. Hier gibt es dreizehn Franken in der Stunde, täglich in bar ausbezahlt. «Es ist ein herrliches Gefühl, am Abend in der Stadt etwas zu essen und zu wissen, dass ich niemanden anbetteln muss», sagt die 23-Jährige. Bereits nehme ihre Kraft zu, und auch an Gewicht habe sie zugelegt. «Ich habe wieder einen Lebensrhythmus, stehe am Morgen auf und freue mich vor lauter Müdigkeit aufs Schlafen.»

Wünscht sie sich vielleicht gar ein bürgerliches Leben? Sie winkt ab: «Der Gedanke kommt mir selten.» Etwa wenn sie zwischendurch genug vom ewigen Umziehen habe. «Manchmal wünsche ich mir auch einfach eine Badewanne mit heissem Wasser.» Doch alles in allem liebe sie ihren Lebensstil und die damit verbundene Freiheit doch zu sehr.