Der 1. Mai in Zürich: Kampf dem Güselchübel!

Nr. 19 –

Erst war es friedlich, dann genügten einige betrunkene Punks, um die im Grossaufgebot angerückten PolizistInnen aus der Fassung zu bringen. Die Eskalation kurz vor der Euro schien auf beiden Seiten erwünscht. Nur knapp gab es dabei keine Toten.

Der Tag begann mit einem Schienbeinbruch. Am 1.-Mai-Fussballturnier auf der Josefwiese im Kreis 5 prallte ein Stürmer mit einem Torwart zusammen und blieb verletzt liegen. Und krümmte sich vor Schmerzen. Das Schienbein war gebrochen. Ein kurzer, heftiger Regen hatte den Platz rutschig gemacht. Die wenigen, die Schienbeinschoner mitgebracht hatten, montierten diese nun schnell.

Dann schien die Sonne. Auf dem Limmatquai bewegte sich der offizielle 1.-Mai-Umzug langsam Richtung Bürkliplatz. Zehntausend waren gekommen. Ganz am Schluss des grossen Umzuges, nach Transparenten mit Aufrufen für den Sozialismus und für mehr soziale Gerechtigkeit, für ein freies Kurdistan und gegen die Euro 08, für die Juso und für Frieden und sogar für Stalin, schritten die Zürcher AnarchistInnen. Auf einem riesigen Transparent an ihrem Soundwagen stand: «Lenin ist tot! Es lebe die Anarchie!» Den gut situierten Menschen im feinen Restaurant Terrasse am Bellevue blieb nur das Staunen. Eine braun gebrannte junge Mutter mit aufgespritzten Lippen, sie hatte gerade für 25 Franken Rührei mit Speck bestellt, riet ihrem Sohnemann, vom Fenster wegzukommen. Man kann ja nie wissen. Und draussen feierte eine grosse Gruppe sri-lankischer NationalistInnen den Führer der Liberation Tigers of Tamil Eelam.

Zur Mittagszeit, im Rücken drehten die Möwen über dem See ihre Kreise, schritt SP-Präsident Christian Levrat auf dem Bürkliplatz an das Mikrofon und hielt eine flammende Rede für die Sozialdemokratie und gegen die Attacken der Bürgerlichen, die nichts gegen die realen Probleme täten und mit der UBS gerade fünf Kilometer aneinandergereihter Tausendfrankennoten verbrannt hätten. «Wir sind nicht die Bewahrer», rief Levrat, «wir sind für eine starke soziale Sicherheit und ein solidarisches Land!» Das alles klang für die moderne SP ungewohnt kämpferisch, und Applaus brandete dem See entlang zum Bellevue und auch zum Restaurant Terrasse.

Repression und Revolution

Inzwischen wurde das Kanzlei-Areal im Kreis 4, wo ein revolutionäres Bündnis zum Konzert aufgerufen hatte, von mehr als hundert PolizistInnen umstellt. Auf das Gelände kam man nur durch eine Polizeischleuse. Es war wie beim Hochrisiko-Fussballspiel.

Auf dem Areal tanzten Punks zur Musik der U.K. Subs, und die Hippies sassen im Gras, und auch die Polizei in Zivil, den «Vorwärts» unter den Arm geklemmt, wippte auffällig unauffällig mit dem Fuss und filmte das Darumherum; es war ein friedliches Miteinander von Repression und Revolution, die Stimmung schien trotz beidseitiger grosser Mobilisierung relativ entspannt. Nur ein älterer ehemaliger Kämpfer wunderte sich, dass niemand die ZivilpolizistInnen vom Areal jagte. Ein junger Mann sass im Kies und sagte unaufhörlich: «Die Drogen! Die Drogen!» Und dann sagte er: «Ich habe grossen Durst!» Und so reichte ihm ein Zivilpolizist in Jeansjacke, mit Rucksack, Sonnenbrille und Funkstecker im Ohr, eine Wasserflasche und nickte ihm aufmunternd zu. Es war der Moment, in dem klar schien, dass dieses Fest friedlich bleibt.

Ein halbe Stunde später vermummten sich zehn betrunkene Punks und warfen Steine auf die Polizei. Diese, mit einem massiven Aufgebot präsent, kesselte die paar Punks nicht ein, sondern begann, Gummischrot quer über den ganzen Helvetiaplatz zu schiessen, auch hinein in eigene Reihen, und so sollte der Tag dann also doch noch mit den absehbaren Krawallen und Massenverhaftungen enden. Und mit Schwerverletzten.

Zwei Stunden später lag vor der Lambada Bar an der Dienerstrasse / Ecke Langstrasse, also direkt neben dem Tumult, ein junger Mann mit eigentlich dunklem Teint, kreidebleich, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. Ein Auto habe ihn überrollt, brüllte einer. Der junge Mann verdrehte nun die Augen so, dass nur noch das Weiss zu sehen war. Ein Mann, der sich mit solchen Situationen auszukennen schien, leistete Erste Hilfe. Beinebewegen ging noch, auch der Rücken. Dann eine Blutspur. Irgendwo liege ein Toter, hiess es. Fünf Meter neben dem Verletzten zündeten Vermummte weitere Container an und warfen Steine auf die Polizei. Diese antwortete mit weiterem Gummischrot. Menschen brüllten in ihre Handys, hier lägen mehrere Schwerverletzte herum. Ein Betrunkener rollte erneut einen Container heran, um ihn anzuzünden.

Die Verletzten lagen mitten im Tumult und sozusagen zwischen den Fronten. Irgendwann kam dann, flankiert von der Polizei, die Ambulanz. Es hatte eine Ewigkeit gedauert. Der Revolutionäre Aufbau nutzte dies für die eigene Propaganda: Am Abend ging bereits das Gerücht, der Verletzte sei gestorben. Und am nächsten Tag hiess es auf Flugblättern, die Polizei habe den Rettungseinsatz bewusst verzögert. War das so? Oder war es einfach unmöglich, im Chaos die Lage richtig einzuschätzen? Und hätte der Mob, der dann später, auf der Suche nach Waffen (in diesem Fall: Holzlatten), beinahe die Schreinerei eines linken Kollektivs stürmte, die Ambulanz verschont?

Die Zürcher SP lobte auf jeden Fall am nächsten Tag den Polizeieinsatz. Angetrunkene Mitglieder des Revolutionären Aufbaus wiederum demolierten darauf am Samstagabend den SP-Stand auf dem Areal des offiziellen 1.-Mai-Festes. Und ein Mann sammelte dort Unterschriften für eine Reklamation an die Uno, die Grünen sammelten gegen die Offroader, Mitglieder des 1.-Mai-Komitees bewachten den SP-Stand, und eine junge Frau aus dem Berner Oberland fragte PassantInnen vor dem Festgelände, welche Frage sie Gott stellen würden, wenn sie könnten.

«Das sind Zivilpolizisten!»

Kurz nach 17 Uhr am 1. Mai, also kurz nach der Amokfahrt an der Ecke Diener-/Langstrasse, vermeldeten viele unabhängige ZeugInnen in sehr genauen und absolut übereinstimmenden Aussagen, darunter mehrere AnwohnerInnen, Erstaunliches von der Ecke Lang-/Josefstrasse im Kreis 5: 25 Nachdemo-TeilnehmerInnen waren dort gestrandet. Zu ihnen gesellten sich nun sechs Vermummte. Diese begannen zu randalieren: Sie rissen zwei silberne Mülleimer aus der Verankerung und warfen diese auf die Strasse. Der Anführer der Gruppe trug ein rotes Halstuch, eine etwas verblichene militärgrüne Hose mit Taschen auf den Seiten und eine graue Jacke. Er hatte kurzes blond-braunes Haar. Plötzlich wurde den anderen Anwesenden klar, dass es sich bei den randalierenden Vermummten um PolizistInnen handelte. Einer rief: «Das sind Zivilpolizisten!» Und aus einem Fenster begann ein Anwohner einen italienischen Schlager gegen die Polizei anzustimmen. Daraufhin griff der Anführer zum Pfefferspray. Und vier der vermummten, randalierenden PolizistInnen zogen Tränengaspetarden und warfen sie in die Menge.

Etwa zur gleichen Zeit riegelte die Stadtpolizei rund um die Kernstrasse, einer Seitenstrasse zur Langstrasse im Kreis 4, alle Zugangsstrassen ab und nahm jeden fest, der sich noch im Quartier befand. Das waren über zweihundert Personen.

Die letzte EM-Übung

Nicht festgenommen wurden allerdings die fünfzehn rechten Fussballhooligans des Grasshopper Clubs Zürich und des FC Zürich, die seit ein paar Jahren auch zum Inventar der Nachdemo gehören und das Geschehen jeweils aus einiger Distanz betrachten, um etwa festzustellen, dass der Schwarze Block gar nicht vor Ort sei, sondern nur AusländerInnen, oder dass auch der eine oder andere Fan aus der FCZ-Kurve randaliere. Gerade reinigte sich der Anführer der Truppe, ein GC-Fan in den Vierzigern, an einem Brunnen mit Wasser die Augen. Sein Gesicht war rot wie das Hinterteil eines Pavians. Er hatte sich in der Nähe mit irgendwem geprügelt, und ein Polizist in Zivil hatte ihm deshalb Tränengas in die Augen gesprüht. Jetzt, vor der Post Helvetiaplatz, gesellte sich ein älterer hagerer Mann mit grauem Schnauz und einer Zigarette im Mundwinkel zu ihnen. Der Mann war ein Hooliganexperte und Zivilfahnder der Stadtpolizei. Da habe er ganz schön was abbekommen, sagte der Hooligan zum Polizisten, und dieser zog an seiner Zigarette und zuckte mit den Schultern und lächelte, und dann schüttelte man sich die Hand, und die Hooligans zogen davon und genossen den schönen Tag und den Auslauf, den man ihnen inmitten dieser gross angelegten EM-Übung trotz angezettelter Prügeleien gewährte.

Am Abend umstellten noch einmal hundert PolizistInnen, sekundiert von Wasserwerfern, eine Stunde lang das Kanzlei-Areal. Dort tranken zu jener Zeit rund hundert AnwohnerInnen und übliche BesucherInnen des Lokals Xenix ihr Abendbier. Sechs betrunkene 1.-Mai-Touristen zeigten der Polizei ihr nacktes Hinterteil. Dann zog die Polizei wieder ab. Auf dem Areal selbst wunderte sich mancher, was diese mit der Aktion wohl bezweckt hatte. Ein Anwohner sagte: «Ich trink hier in Ruhe mein Bier, sollen die doch ihre Übung abhalten.»



Urs Anderegg: «Der 1. Mai in der Schweiz. Vom Traum einer besseren Welt ...». Tectum Verlag. Marburg 2008. 692 Seiten. 39 Euro.

Als Grossmutter auf die Nachdemo ging

Am 1. Mai 1951, nach der offiziellen Kundgebung in Zürich, zogen etwa «500 Personen 'jüngeren Alters'» unter der Führung spanischer Gastarbeiter mit roten und spanisch-republikanischen Fahnen vor das spanische Konsulat, um gegen das Franco-Regime zu demonstrieren». Diese illegale Demonstration wurde von der Polizei gestoppt, «worauf es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, in deren Folge verschiedene DemonstrantInnen festgenommen wurden». So berichtet der Historiker Urs Anderegg in seinem eben erschienenen Buch «Der 1. Mai in der Schweiz», und er widerlegt damit ein Gerücht, das oft in den Medien, aber auch bei GewerkschafterInnen kursiert: Am Anfang der Zürcher Nachdemo standen nicht etwa die AchtundsechzigerInnen, sondern - Parolen des Schwarzen Blocks signalisieren es richtig - der antifaschistische Widerstand und die internationale Solidarität. Anderegg zeigt auch, dass von den «Konsulatszügen» der GastarbeiterInnen, die an Traditionen aus der Vorkriegszeit anknüpften und sich in den fünfziger Jahren als regelmässige Nachdemos einbürgerten, eine erhebliche Erneuerung der damals versteinerten gewerkschaftlichen Kundgebungsrituale ausging. Neben MigrantInnen waren in Zürich laut Bundesanwaltschaft schon 1951 «militante Mitglieder der linksextremen Jugendgruppen» beteiligt, wobei schweizerischerseits «besonders Frauen und Mädchen» auffielen.

Andereggs umfangreiche Dissertation ist eine Fundgrube für solche Details und Zusammenhänge der linken Schweizer Geschichte, die stets weniger einheitlich und viel kontroverser war, als ihre AnführerInnen es wünschten. Aus aktuellem Anlass noch eine andere Aussage des Historikers: Revitalisiert durch die Bewegungen von 1968 und 1980 wurde die Nachdemo vor 1990 von der Polizei nicht stark behelligt, die Zwischenfälle hielten sich in Grenzen. Dann änderte die Polizei ihre Strategie und begann, die illegale Demo aktiv zu bekämpfen. Diese eskaliert seither regelmässig zum Krawall; gleichzeitig ist sie zunehmend unpolitisch geworden.

Stefan Keller