Die Frauen von Aldermaston: Über alle Zäune hinweg

Nr. 26 –

Fünfzig Jahre nach dem ersten Ostermarsch campieren noch immer Frauen vor dem britischen Atombombenzentrum. Sie protestieren hartnäckig, gewaltfrei - und mit viel Spass.

«Letztes Jahr haben sie das Lager umstellt, und dann sagte der kommandierende Polizist: 'Ich nehme euch alle elf fest'.» Juliet McBride gluckst vor Lachen, als sie die Geschichte erzählt. «Danach herrschte Chaos, ein paar verschwanden im Unterholz, die Cops jagten allen nach, verfrachteten uns in einen Minibus und brachten uns auf die Polizeiwache.» Dort aber kamen nur zehn Frauen an. Auch ein zweites Durchzählen half nichts: Zehn Frauen hatten sie festgenommen, nicht elf. «Und damit war die Verhaftung rechtsunwirksam», erzählt McBride, «sie mussten uns alle gehen lassen.»

Es geht lustig zu auf dem Frauenfriedenscamp von Aldermaston, vor allem dann, wenn die Frauen von ihren bisherigen Erlebnissen mit der Staatsmacht berichten. Ein scharfer Wind schiebt Regenschauer von Westen heran, der Rauch des Lagerfeuers dreht sich in alle Richtungen. Auf dem kleinen Wiesenstück am Kreisel der A 340 knattert eine blaue Plane, die bei einem Regenguss notdürftigen Unterschlupf bietet, daneben steht ein Zelt. Zwei neue Betonpfosten markieren die Grenze zwischen dem öffentlich zugänglichen Gelände und dem Gebiet des Verteidigungsministeriums MOD. An dessen Zaun wehen vier Transparente und die regenbogenfarbene Friedensfahne: «No Nukes», steht auf einem der Banner, «Aldermaston Peace Women's Camp» auf einem anderen. Hinter dem Zaun liegt ein Helikopterlandeplatz und dahinter erheben sich die Produktionsanlagen, Testlabors und Lagerhallen der britischen Atomwaffenfabrik Aldermaston.

Juliet McBride und Shane (die ihren richtigen Namen nicht nennen will) sind seit gestern hier. Julia, die in Southampton arbeitet, kommt gerade an. Drei weitere Frauen haben ihr Kommen angekündigt. Shane und Juliet sind erfahrene Camperinnen. Seit 23 Jahren schlagen sie einmal im Monat am Grenzzaun von Aldermaston ihr Friedenscamp auf. Davor waren sie in Greenham Common dabei, beim Frauenwiderstand gegen die dort stationierten US-Marschflugkörper Cruise Missiles. Und zwischendurch, zu Beginn des Irakkriegs, hatten sie wochenlang den US-Luftwaffenstützpunkt Fairford belagert (siehe WOZ Nr. 15/03), von dem aus die US-Bomber in Richtung Bagdad starteten, und immer wieder «die Lage inspiziert», wie sie es nennen: Sie drangen in das schwer gesicherte Gelände ein, rannten aufs Rollfeld, störten den Bomberverkehr.

Danach kehrten sie nach Aldermaston zurück. «Viele hatten gegen die Cruise Missiles und den Irakkrieg protestiert, weil sie gegen die Dominanz der USA waren», sagt Shane. In Aldermaston hingegen geht es gegen die britische Bombe. Und gegen die Modernisierung der britischen Atom-U-Boot-Flotte, die die Labourregierung vor drei Jahren beschloss, obwohl über siebzig Prozent der Bevölkerung dagegen waren. Bis zu 76 Milliarden Pfund könnte die Aufrüstung kosten - die Opfer und die Schäden eines möglichen Atomkriegs nicht mitgerechnet.

Direkte Aktionen

Vier Mal hatten die Friedenscamperinnen in den letzten zwei Jahren umziehen müssen. Immer wieder erlassen die örtlichen Behörden - im kleinen, wohlhabenden Dorf Aldermaston und in den benachbarten Ortschaften leben viele von der Atombombenfabrik - und das MOD neue Verfügungen, um die Protestfrauen zu vertreiben. «Aber jetzt haben sie sich selbst in den Fuss geschossen», lacht Juliet McBride und winkt einem Auto nach, das zustimmend hupend durch den Kreisel fährt. «Wir waren noch nie so öffentlich präsent.»

Präsenz ist gut, Action ist wichtiger: Direkte Aktion und keine Gewalt. Warum? «Ich muss das tun, weil es getan werden muss», sagt Juliet McBride, mittlerweile Grossmutter von zwei Enkeln. «Seit ich weiss, was da passiert, kann ich es nicht geschehen lassen.» So einfach ist das. Beiläufig verweist sie auf die zunehmende Privatisierung der britischen Atombombenfabrikation. Die wird bisher vom MOD, dem US-Unternehmen Lockheed Martin, dem privaten Dienstleistungskonzern Serco (der unter anderem auch private Gefängnisse verwaltet) und der staatlichen Atomagentur BNFL betrieben. Doch BNFL, die auch die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Sellafield unterhält, will aussteigen. Die Labourregierung sucht jetzt nach einem privaten Investor.

McBride kann gut klettern. Die Technik hat sie in den achtziger Jahren gelernt, als sie sich noch um ihre vier Kinder kümmern musste und die Frauencamps von Greenham Common nur kurz besuchen konnte. Mehrere Dutzend Mal hat sie in den letzten Jahren die drei Zäune von Aldermaston überstiegen. Der erste Zaun sei einfach, ein schlichtes Maschendrahtgeflecht mit nach aussen geneigten Stacheldrahtreihen oben. Für den zweiten hingegen, sagt sie, hätten sich die Behörden was einfallen lassen: Eine Stahlplatte mit kleinen Öffnungen, in die nicht einmal ein kleiner Finger passt - und oben eine bewegliche, rasiermesserscharfe Nato-Stacheldrahtrolle. «Ein nettes Design, aber mit einem Konstruktionsfehler.» Denn an den Stützen, die den Zaun stabilisieren, komme sie gut hoch und müsse sich dann nur noch unter der Stacheldrahtrolle hindurchwinden. Der Rest sei ein Kinderspiel - «und schon ist man drin». Man muss nur wollen. Einmal sei sie sogar bis zum Laserkomplex vorgedrungen, wo Atomexplosionen simuliert und neue Bomben ausprobiert werden.

Das habe viel Spass gemacht, sagt sie. Ein Werkschutzmann, der ihre Kletterexpeditionen über die Video-Überwachungsanlage regelmässig verfolgte, habe ihr bei einer Festnahme im letzten Jahr sogar ein indirektes Kompliment gemacht: «Für die drei Zäune benötige ich im Durchschnitt neunzig Sekunden, sagte er, aber Shane ist genauso schnell. Er hat das offenbar genau ausgerechnet.»

Neunzig Sekunden für drei Zäune

Ein bisschen Stolz schwingt in ihrer Stimme schon mit, wenn sie das erzählt. «Vor kurzem ist mir zugetragen worden, dass sich der US-Botschafter beim MOD nach mir erkundigte.» Der wollte wissen, was aus der Granny, der Grossmutter, geworden sei, «die all eure Sicherheitslücken aufspürt». Auf diesen Service, sagt Juliet McBride, «müssen die jetzt verzichten». Vor einem Jahr hat die Labourregierung ein neues Gesetz erlassen, das aus dem bisher nur zivilrechtlich einklagbaren «schweren Hausfriedensbruch», wie das illegale Betreten von Militärgelände definiert wird, eine Straftat macht. Und da hört McBrides spielerischer Widerstand auf.

Rund 160 Mal wurde Juliet McBride in den letzten dreissig Jahren festgenommen und auf Polizeiwachen geschleppt (Shane schätzt die Zahl ihrer Festnahmen auf 300). 89 Mal wurde McBride vor Gericht geladen. Aber hingegangen ist sie nie. Die meisten Anklagen scheiterten schon im Vorfeld - sie wurden von der Staatsanwaltschaft verworfen, weil die Erlasse des MODs nicht gesetzeskonform waren. Oder weil sie kein öffentliches Verfahren wollte. «Grossmutter düpiert das mächtige Verteidigungsministerium», solche Schlagzeilen wollten selbst die konservativen Herren der britischen Justiz nicht lesen. Gerade drei Mal kam es zu einem Prozess. Und jedes Mal wurde sie freigesprochen, weil die Provinzrichter ihre Argumentation gegen den Menschen vernichtenden Zweck der Atomwaffen nicht anhören und zu Protokoll nehmen wollten.

Das Zaunklettern hat McBride aufgegeben. Dafür hat sie jetzt mehr Zeit für ihre «Nukewatch», für die Beobachtung der Atomwaffentransporte von Aldermaston, wo die Sprengköpfe hergestellt werden, zu den beiden rund 900 Kilometer entfernten schottischen Häfen, wo die britischen Atom-U-Boote stationiert sind. Sie wartet oft tagelang vor Aldermaston, bis ein Atomkonvoi das Gelände oder die benachbarte Montagefabrik Burghfield verlässt und verfolgt den Transport so lange, bis sie weiss, welche Route er diesmal einschlägt.

«Das gibt den Freunden in Schottland drei Tage Zeit, um einen Protest oder eine Blockade zu organisieren», sagt sie. Aber manchmal schreitet sie auch selbst ein. Und stoppt eigenhändig die gewaltige Kolonne: Ein paar Polizeiwagen vorneweg, gefolgt von mehreren Mannschaftswagen mit schwer bewaffneten Soldaten, danach ein Abschleppwagen, dann die drei oder vier Sattelschlepper mit den atomaren Sprengköpfen, hinter ihnen ein Feuerwehrauto, ein Krankenwagen, ein Bus, weitere Minibusse, Polizeiautos und -motorräder - ein mächtiger Konvoi, den sie irgendwann mit ihrem Kleinwagen überholt. Und den sie dann zum Halten bringt, indem sie sich mit der Friedensfahne auf die Fahrbahn stellt. Und wenn der dann steht, klettert sie auf ein Fahrzeugdach - oder wirft sich unter einen der Laster. «Drunterkriechen ist besser», sagt McBride. Dann brauchen die länger, bis sie dich festgenommen haben.» Aber meistens klettere sie rein instinktiv hoch. Da müsse sie noch üben.

Der erste Ostermarsch

Üben muss Pat Arrowsmith nichts mehr. Die 78-Jährige, die im Londoner Büro der Campaign for Nuclear Disarmament (CND) Briefe eintütet, ans Telefon geht und immer wieder als Rednerin auftritt, hat schon alles erlebt. Sie war dabei, als Anfang der fünfziger Jahre in England erste Antiatomkriegsinitiativen entstanden (die zunächst gegen eine mögliche atomare Bewaffnung Deutschlands agitierten). Sie hat miterlebt, wie 1957 britische AtomkriegsgegnerInnen in Greenpeace-Manier die britischen Wasserstoffbombenversuche auf den Christmas-Inseln stoppen wollten. Sie machte sich auf den Weg, als ihre Organisation - das Direct Action Committee Against Nuclear War - gegen den Bau der Atombombenfabrik Aldermaston protestierte.

Und sie war gerade arbeitslos, als der Plan auftauchte, einen Marsch von London nach Aldermaston zu organisieren. «Ich war zuvor Krankenschwester in einem psychiatrischen Spital gewesen, doch der Boss, ein ehemaliger Offizier, hatte mich gefeuert, weil ihm meine Meinung nicht passte», erzählt Pat Arrowsmith. «Also habe ich die Aufgabe übernommen, den Marsch zu organisieren.» Es sollte ein kleiner Marsch über die 87 Kilometer werden, vier Tage waren eingeplant. «Wir haben mit vielleicht fünfzig Leuten gerechnet.» Doch kurz zuvor hatten LabourpolitikerInnen, Kirchenleute und Prominente wie Bertrand Russell die CND gegründet - eine Organisation mit viel gutem Willen, «aber ohne konkrete Ideen. Da kam der Vorschlag des Direct Action Committees gerade recht.»

Und so trafen sich am Ostermontag 1958 nicht 50, sondern 8000 Menschen auf dem Trafalgar Square und zogen los. «Das Wetter war schauderhaft, am zweiten und dritten Tag marschierten nur noch 600 Leute, aber am vierten waren fast 10 000 dabei.» Ostern, sagt Arrowsmith, war ein guter Termin, da haben in Britannien viele ein paar Tage frei; religiöse Erwägungen hätten bei der Terminwahl nie eine Rolle gespielt. Sie selber kam kaum zum Marschieren. Sie musste RednerInnen aufbieten (der von den Nazis verfolgte deutsche Pastor Martin Niemöller sagte sofort zu), Unterkünfte organisieren, Verpflegung heranschleppen lassen. Sie war auch dabei gewesen, als über das Logo entschieden wurde, das Friedenssymbol, das sich mit dem Vietnamkrieg weltweit verbreitete und das sie immer noch umhängen hat.

Nach dem Erfolg des ersten Marsches setzte CND die Tradition fort, allerdings in umgekehrter Richtung. Es war eine strategisch kluge Entscheidung: Mit jedem Kilometer auf London zu wuchs die Zahl der TeilnehmerInnen. Und ein Beschluss, der dem CND-Konzept entsprach: Der Marsch auf die Regierenden sollte Downing Street 10 politisch unter Druck setzen. 1962 kamen zur Abschlusskundgebung auf dem Trafalgar Square über 100 000 DemonstrantInnen.

ArbeiterInnen für den Frieden?

Die Anarchopazifistin Arrowsmith war zu diesem Zeitpunkt bereits anderswo aktiv. «Die CND-Führung hat Verstösse gegen geltendes Recht nie akzeptiert, wir aber wollten uns um Gesetze nicht scheren.» Das Recht gehöre ohnehin den Mächtigen, «und die ändern es nach Belieben, egal, was du tust». Sie versuchte durch (friedfertige) Bauplatzbesetzungen, Strassenblockaden und Gewerkschaftsengagement die ArbeiterInnen auf den Atombaustellen für ihre Sache zu gewinnen. Sie sprach mit den Dockern von Liverpool («die waren enorm hilfreich»), mobilisierte Belegschaften sass vor U-Boot-Häfen, Luftstützpunkten und Aldermaston. Und blieb dort nicht nur sitzen.

Einmal gelang es ihr sogar, die Beschäftigten eines Chemiewerks in Merseyside zu einem eintägigen Streik gegen die atomare Aufrüstung zu bewegen. In der Hochzeit des Kalten Krieges kam dies nicht gut an: Pat Arrowsmith wurde immer wieder verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt. 1964 und 1968 musste sie jeweils sechs Monate absitzen, «weil ich mich weigerte, ein Papier zu unterschreiben». Auf dem stand, dass sie sich verpflichte, den «Frieden im Land» einzuhalten. «Dabei habe ich doch genau das getan - und mich für den Frieden im Land eingesetzt.»

Elf Mal sass Arrowsmith im Knast. Manchmal nur ein paar Wochen, zwei Mal ein halbes Jahr (da trat sie mehrfach in den Hungerstreik und wurde zwangsernährt), einmal für anderthalb Jahre. Da hatte sie britische Soldaten per Flugblatt zur Kriegsdienstverweigerung in Nordirland aufgerufen. Amnesty International führte sie damals als politische Gefangene: «Ich hatte ja nur meine Meinung geäussert.»

Glaubt sie, dass ihr langer Kampf jemals Erfolg haben wird? «Ich bin mir nicht sicher. Aber es war für mich immer wichtig, es zumindest versucht zu haben», sagt sie, die trotz aller Vorbehalte CND-Mitglied blieb und seit geraumer Zeit Vizepräsidentin der Organisation ist. Dann bricht sie auf. Sie muss noch den Strassenstand vorbereiten, den sie am Wochenende in ihrem Londoner Quartier aufstellen will. Ganz so heftig wie mit Pat Arrowsmith ist die Staatsmacht mit Juliet McBride nie umgesprungen. Der Kalte Krieg ist vorbei, die Behörden haben dazugelernt. Dumm war das britische Establishment seit dem Verlust des Empires nicht. «Sie versuchen uns zu ignorieren», sagt die Konvoisaboteurin McBride. Hier in Aldermaston würden sie ja mittlerweile in Ruhe gelassen. Auch das monatliche Friedenscamp vor der grossen US-Abhöranlage Menwith Hill in Yorkshire bleibe derzeit von Grossaktionen verschont. «Aber in Schottland schlägt das MOD umbarmherzig zu.» Dort hat der Protest gegen die Londoner Atompolitik mittlerweile nationalistische Dimensionen angenommen und die Unabhängigkeitsbestrebungen gestärkt.

Sie jedenfalls habe einiges gelernt, sagt McBride. «Je dümmer sich die Staatsgewalt verhält, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Anklage erhebt», meint sie und legt ein paar Äste nach. «Vor kurzem wollten sie uns drankriegen, weil wir vor einem Lagerfeuer sassen. Dabei ist es nur verboten, ein Feuer zu entzünden. Unseres brannte aber schon.» Das kleine Feuer, das vor Aldermaston flackert, könnte wieder auflodern. Bei der nächsten Krise, beim nächsten Krieg sind all die Tausenden wieder da, die einst vor Aldermaston und anderen Brennpunkten campierten, glauben die Friedensfrauen. Und hoffen zugleich, dass es nicht dazu kommt.

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