Neue Fichenaffäre: So ficht man heute

Nr. 32 –

Wie begann sie? Wie ist die WOZ betroffen? Und ist der Begriff «Fiche» überhaupt noch sinnvoll?


Der erste Fall: Am 26. Juni wird bekannt, dass sechs türkisch-kurdische PolitikerInnen von der «Fachgruppe 9» der Basler Staatsanwaltschaft beobachtet wurden. Die Gruppe belieferte mit ihren Informationen den Inlandnachrichtendienst, den Dienst für Analyse und Prävention, kurz DAP. Die Geschäftsprüfungskommission des Basler Grossrats wurde aufgrund von Hinweisen im vertraulichen kantonalen Staatsschutzbericht auf die Personenerfassung aufmerksam. Die «Basler Zeitung» erfährt aus einer inoffiziellen Quelle, dass insgesamt 110 000 Personen in den Datenbanken des DAP gespeichert sind. Ein Zehntel davon soll in der Schweiz leben. Offiziell wird die Zahl weder bestätigt noch dementiert. Weiter wird publik: Alle AusländerInnen, die sich einbürgern wollen, werden vom Nachrichtendienst systematisch einer Kontrolle unterzogen.

Der zweite Fall: Im Januar wird WOZ-Redaktor Dinu Gautier im Vorfeld der Anti-Wef-Kundgebung vor seinem Büro in Bern verhaftet. Gautier, die WOZ sowie je vier weitere Personen und Organisationen, die im betreffenden Haus arbeiten, stellen daraufhin ein Gesuch auf Einsicht in die Datenbanken des DAP. Am 15. Juli, drei Wochen nach der Enthüllung in Basel, teilt der eidgenössische Datenschützer Hanspeter Thür den Betroffenen mit, dass Dinu Gautier gespeichert ist (wegen Teilnahme an politischen Aktionen vor seiner Zeit bei der WOZ), weiter Balthasar Glättli, der Generalsekretär der MigrantInnenorganisation Solidarité sans frontières und grüner Gemeinderat in Zürich (als Gesuchssteller einer bewilligten Demonstration), und schliesslich die WOZ selbst. Mit drei Artikeln. Mit einer angeblich mit dem DAP geführten Korrespondenz. Mit einer Mitteilung an eine ausländische Behörde, dass die WOZ eine Zeitung sei.

Erstaunlich an der Antwort ist die hohe Trefferquote: drei Einträge bei zehn Anfragen! Vor allem aber die, wenn auch knappe, Beschreibung des Inhalts der Einträge. Üblicherweise teilt der Datenschützer auf entsprechende Anfragen die stets gleiche dadaistische Antwort mit: dass entweder Daten nicht unrechtmässig bearbeitet wurden oder dass er bei vorhandenen allfälligen Fehlern in der Datenbearbeitung eine Empfehlung an das zuständige Bundesamt gerichtet habe. Diesmal macht Thür von der Ausnahmeklausel Gebrauch: Sie erlaubt ihm, weitergehend zu informieren, «wenn damit keine Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit verbunden ist und wenn der gesuchsstellenden Person ein erheblicher Schaden erwächst» - beispielsweise in der Berufsausübung. «Ich habe nicht das erste Mal von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht», sagt Thür. «Aber es ist das erste Mal, dass ich auf Treffer gestossen bin.»

Diese Fälle wecken Erinnerungen an die berüchtigte Fichenaffäre: 1989 wurde bekannt, dass insgesamt 900 000 Personen und Organisationen vom Staatsschutz «fichiert» wurden. «Fiche» ist die französische Bezeichnung für Karteikarte. DAP-Chef Urs von Däniken bestreitet eine neue Fichenaffäre. Und das übergeordnete Justizdepartement vermeldet, man dürfe bei den Basler GrossrätInnen nicht von einer Fichierung, lediglich von einer Datenbearbeitung ausgehen. Als ob nicht der Datenschutzbeauftragte in seiner Standardantwort unter Fichierung Datenbearbeitung versteht. Was also ist gegenwärtig unter einer Fiche zu verstehen?

Deutlicher Datenschützer

Eine Auskunft aus den Datenbanken des DAP ist für die BürgerInnen nur über den Umweg über den Datenschützer möglich. Dafür ist ihre Architektur öffentlich - festgehalten in den 22 Artikeln der «Verordnung über das Staatsschutz-Informations-System», kurz ISIS. Es besteht aus sechs Datenbanken.

Die Datenbanken sind nach Objekten, Meldungen und Relationen strukturiert. Ein Objekt ist eine Zusammenstellung von Daten, die sich auf eine oder mehrere Personen, Sachen oder Ereignisse beziehen. Meldungen sind Informationseingänge zu einem oder mehreren Objekten. Relationen sind die Beziehungen zwischen einzelnen Objekten und Meldungen. Die Objekte und ihre Relationen können grafisch dargestellt und gespeichert werden.

Wie sind nun die Auszüge zur WOZ in diese Architektur einzuordnen? Hanspeter Thür: «Vier von fünf Einträgen über die WOZ befinden sich in der sechsteiligen ISIS-Datenbank unter der Rubrik 'Staatsschutz', wo personen- und ereignisbezogene Informationen aus der präventiven Staatschutztätigkeit verzeichnet sind. Ein Eintrag ist unter der Rubrik 'Verwaltung' verzeichnet.» Die WOZ ist also ein Objekt in den Datenbanken des DAP. Mit Beziehungen zu anderen Objekten und Meldungen. Das würde heissen: Die WOZ ist im Visier des Staatschutzes.

Über der Verordnung zur Datenbank steht das Bundesgesetz zur Wahrung der Inneren Sicherheit (BWIS). Darin heisst es: «Staatsschutzorgane dürfen Informationen über die politische Betätigung und die Ausübung der Meinungs-, Koalitions- und Versammlungsfreiheit nicht bearbeiten.»

Beliefert, bearbeitet, kategorisiert und interpretiert werden die Datenbanken von den MitarbeiterInnen des DAP sowie seiner kantonalen Ableger wie etwa der Basler «Gruppe 9». Hinzu kommt, dass bei einem Polizeieinsatz im interkantonalen Konkordat alle erfassten Personalien automatisch an den DAP geliefert werden müssen.

Die Fragen, die sich stellen: Sammelt der Staatsschutz im grösseren Stil als jetzt bekannt - und verletzt damit verfassungsmässig verbürgte Rechte?

Zahlreiche Demonstrationen mündeten in einem sogenannten Kessel oder in Personenkontrollen. Die letzten Beispiele: Die Freiraum-Demo in Luzern, die Wef-Proteste in Bern und Basel. Sind die Kessel also Trichter zum DAP? Ist eine Datenbank in der Lage, sich selbst zu ermächtigen? Oder hat, wer die Daten am besten ordnen kann, die Macht? Welche Rolle spielen Datenbanken überhaupt in der Politik, in der Wirtschaft und im alltäglichen Leben? Bist du bald kein Subjekt mehr, sondern ein Objekt? Gibt es Subversionspotenzial? Den SBB bei der Routenbefragung immer einen falschen Zielort angeben, ein Kaff, eine Insel! Wir sind in einer neuer Ära: Es geht um ein Leben mit, in, durch Datenbanken! Der eigentliche neue Fichenskandal ist: Wir, die meisten, haben davon noch fast keine Ahnung.

Untersuchungen laufen

Auf dem Tisch von Hanspeter Thür liegt nun auch der Basler Fall. Nachdem er über Umwege bekannt wurde, will ihn der Datenschützer selbst prüfen. Weiter will er Begriffsklarheit über den Aufbau und die Funktionen von ISIS. Auch die Geschäftsprüfungskommission (GPdel) der eidgenössischen Räte und die JuristInnen in Eveline Widmer-Schlumpfs Departement untersuchen die Vorkommnisse.

Niklaus Oberholzer, der als Jurist die PUK bei der Aufdeckung des 1989er Fichenskandals beriet, fordert: «Es braucht endlich ein klares Verfahren, wie der Staatsschutz tätig werden kann. Ist ein Verfahren abgeschlossen, sollen die Betroffenen von der Beobachtung in Kenntnis gesetzt werden.»

Weiterhelfen könnte auch der Technikhistoriker David Gugerli von der ETH Zürich. Er arbeitet an einem Forschungsprojekt mit dem Titel «Datenbanken. Kulturgeschichte einer rechnergestützten Technik des späten 20. Jahrhunderts».

WOZ: Herr Gugerli, in Ihrem Forschungsprojekt ziehen Sie von Handbüchern von InformatikerInnen bis zu Filmen alle möglichen Quellen bei. Gibt es Ihrer Meinung nach ein Bild, das eine Datenbank treffend illustrieren würde?

David Gugerli: Nein. Datenbanken sind verteilt auf verschiedene Tabellen, auf verschiedene Rechner. Sie sind extrem abstrakt, und das ist auch ihre Stärke.

Aber von ihrem Einsatz gibt es Bilder?

In Spionagefilmen und Krimiserien ist es ein beliebter dramaturgischer Kniff, eine Datenbank einzusetzen. Interessant ist, dass früher der Suchbalken langsam lief - der Computer spuckte im letzten Moment den Namen aus, und die AgentInnen stürmten los. Heute wird eine Datenbank viel weniger aufwendig inszeniert.

Das heisst, ihr Einsatz ist selbstverständlich geworden?

Sehr selbstverständlich! Stellen Sie sich nur einmal vor, durch wie viele Datenbanken wir im Moment telefonieren, von der Adresssuche bis zum Gesprächskostenzähler. Aber kommen Sie besser vorbei, dann sprechen wir ausführlich über das Thema.

Somit in Kürze in der WOZ: Interview mit David Gugerli zu einer rechnergestützten Technik des späten 20. Jahrhunderts.