100 Jahre Ford Model T: Nicht mehr Zylinder als eine Kuh Zitzen

Nr. 39 –

Das Auto, das durch alle Stummfilme tuckert, hat das Gesicht der USA verändert, der industriellen Produktion - und damit der ganzen Welt.


WOZ: Im Film «Big Business» aus dem Jahr 1929 geraten Stan Laurel und Oliver Hardy als Christbaumverkäufer über einen Hausbesitzer in Rage, der keinen Baum kaufen will. Sie beginnen, dessen Haus Stück um Stück zu demolieren - während dieser dasselbe mit Stans und Ollies Auto tut. Es ist ein Model T von Ford. Wofür steht es in diesem Film?

Kurt Möser: Das Model T wurde bis 1927 produziert, galt aber schon in den letzten Jahren der Produktion als veraltet. Wenn Stan und Ollie 1929 ein Model T fahren, signalisieren sie Unmodernität und vielleicht Armut. Um 1930, als die Weltwirtschaftskrise ihren Tiefpunkt erreichte, beauftragte die US-Regierung die Fotografin Dorothea Lange, die Auswirkungen der Krise zu dokumentieren. Auf ihren Bildern sieht man immer wieder verarmte «Okies», die Ford T fahren.

Zwanzig Jahre davor war das Model T ein Meilenstein der Modernisierung.

Aber Henry Fords Idee, dasselbe Auto über so lange Zeit unverändert zu bauen, war eine konservative Idee. Das passt zu Ford, der in seinen Büchern das ländliche Leben beschwört und Dinge sagt wie: Ein Auto soll nicht mehr Zylinder haben als eine Kuh Zitzen. Gleichzeitig baut dieser Ford die grösste Fabrikanlage seiner Zeit und ist in dieser Fabrik der harte Modernisierer. Fords Model T hatte auch ein stark didaktisch-autoritäres Element. Ford teilte seinen Konsumenten mit: Ich baue genau das Auto, das ihr braucht; wenn ihr glaubt, ihr braucht etwas anderes, dann irrt ihr.

Dabei hatte er den Anspruch, das Auto zu demokratisieren.

Was auch gelang, nicht nur von der Stückzahl her. Das Model T war leicht zu fahren, es war ein ländliches Auto, geeignet für die Farm. Dort trieb das Auto, aufgebockt, mit seinem Hinterrad zum Beispiel Waschmaschinen an - und brachte so die Modernisierung und Mechanisierung auch in den Haushalt. Fords Auto prägte die amerikanische Landschaft wie die Eisenbahn im 19. Jahrhundert, als es darum ging, die Landschaft überhaupt zu erschliessen. Im 20. Jahrhundert nun machte die Massenautomobilität aus der Pionier- eine Modernisierungslandschaft, die bereit war für den grossen Konsumschub, der dann nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte.

In Europa wurde das Auto erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Hauptfortbewegungsmittel der Massen. Weshalb die Verspätung?

Darüber streiten sich die Forscher. Die Sehnsucht nach Motorisierung war in Europa sicher genauso stark. Ich vermute, es lag einfach an der Wirtschaftskraft. Auch in Europa gab es ständig Versuche, Massenautos zu bauen. Als Hitler seine Idee vom «Volkswagen» propagierte, war dieser Begriff längst in Gebrauch. In Europa konnte man nicht so grosse Stückzahlen bauen, also machte man das Auto billig, indem man es technisch weiter reduzierte: Dreiradautos, Motorräder und Ähnliches waren die europäischen Billigautos. Niemand wollte diese wirklich, aber richtige Autos konnte man sich nicht leisten. Auch die Motorroller der fünfziger Jahre, die heute so erotisiert werden, waren damals einfach unzulängliche Autos.

Ford schaffte das Massenauto, er baute fünfzehn Millionen Mal dasselbe Modell in Schwarz, und das so billig, dass es sich auch Arbeiter leisten konnten. Das passt nicht zu dem, wofür das Auto steht: Individualität, Prestige, Luxus.

Ford wollte das Auto als reinen Gebrauchsgegenstand. Aber bald entstand eine riesige Zubehörindustrie, es gab enorm viele Gadgets, mit denen die Besitzer ihr Model T zu ihrem ganz eigenen Auto machten.

Wie später in der DDR die Trabant-Besitzer?

Genau, oder die Lada-Fahrer in der Sowjetunion. Auch wenn man seinem Auto einen Namen gibt, geht es darum. Aber heute bietet ja die Industrie eine riesige Vielfalt an Modellen, Farben und Zubehör. Ich nenne das «industrialisierte Individualisierung».

Was ist denn ein Auto heute? Gebrauchsgegenstand, Spielzeug, Prestigeobjekt, Technikfetisch, alles zusammen?

Alles zusammen. Auch die Leute, die sagen, sie nutzten ihr Auto nur als Transportmittel, kaufen Autos mit viel Schnickschnack. Es gibt eine Art Geheimgeschichte des Autos; das Auto ist selten das, als was es deklariert wird. Ein Auto ist sehr vielfältig codierbar, auch Defizite können positiv umgedeutet werden.

Autos, die viel Sprit fressen, sind heute verpönt. Dann kann wohl gerade auch dieses Verpönte positiv codiert werden?

Ja, mit so einem Auto kann man ausdrücken: Ich kann es mir leisten. Natürlich verändern sich die Wertungen auch. Man sagt, wenn heute in Kalifornien ein Offroader vor der Tür steht, dann ist die Putzfrau da. Eben das ist in den zwanziger Jahren auch mit dem Model T passiert: eine Entwertung eines Statussymbols.

In Europa - und namentlich in der Schweiz - stiess das Auto vor hundert Jahren auch auf grosse Ablehnung. Die Nichtautomobilisten verteidigten den öffentlichen Raum gegen seine Monopolisierung durch ein gefährliches, lautes und stinkendes Gerät. Aber diese Verteidigung hat vollständig kapituliert. Wie schaffte das Auto diesen Siegeszug?

Das ist eine der ganz grossen Fragen der Geschichte des Automobils. Lange vor der Massenautomobilität gab es den Wunsch nach Massenautomobilität. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es Übergriffe auf Automobilisten, danach nicht mehr. Ich meine, der Krieg muss eine entscheidende Rolle gespielt haben: Im Krieg fuhren viele Männer das erste Mal mit einem Motorfahrzeug. In Ländern, die am Krieg nicht beteiligt waren, kam das verzögert; in der Schweiz spielte sicher der Tourismus eine grosse Rolle. Auch die Taxis in den Städten waren wichtig.

Man fuhr also Auto, bevor man eins besass?

Ja. Man ist ja auch Teilnehmer am motorisierten Verkehr, wenn man nicht Auto fährt - jedes Kind muss heute lernen, die Geschwindigkeit eines fahrenden Autos abzuschätzen.

Womit Sie ansprechen, dass Autos nicht nur Mobilität schaffen, sondern auch - gerade im Falle der Kinder - vernichten. Das Auto schafft neben Freiheiten auch Mobilitätszwänge. Das grosse Versprechen des Autos, der Mobilitätsgewinn, ist eine Täuschung. Weshalb ist diese Täuschung so mächtig?

Weil das Auto immer Mobilitätsbereitschaft signalisiert. In Deutschland fährt ein Auto im Durchschnitt nur 50 Minuten pro Tag; 23 Stunden und 10 Minuten steht es. Aber man könnte jederzeit losfahren. Und ein Auto ist noch viel mehr. Es ist auch der geschlossene Innenraum, der vor dem Verkehr schützt. Es ist eine Skulptur - heute investiert die Industrie mehr Arbeitszeit in das Design als in die Technik der Autos. Das Auto ist Privatsphäre, rollende Musikanlage, Lebensgefühl ... Deshalb kann man es auch nicht ersetzen, wenn man nur seine Mobilitätsfunktion sieht. Diese allein wäre leicht ersetzbar.

Da wird mir ja angst und bange: Ich habe kein Auto. Was fehlt mir?

Ihnen fehlt ein Suchtobjekt. Sie haben sich von einem Zwang freigehalten.



Kurt Möser ist Konservator am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim und Privatdozent für Technikgeschichte an der Universität Karlsruhe. Er ist Autor der «Geschichte des Autos» (Campus-Verlag, 2002).

Die Blechliesel

Am 24. September 1908 verliess das erste Model T die Ford-Fabrik in Detroit. Die «Tin Lizzy» (Blechliesel), wie das im Volksmund hiess, war das erste Auto, das in Massenproduktion ging: Fünfzehn Millionen Stück davon wurden bis 1927 hergestellt, zeitweise waren mehr als die Hälfte aller in den USA verkauften Autos T-Modelle. Die meiste Zeit war es ausschliesslich in Schwarz erhältlich. Es galt als unverwüstlich und war tatsächlich das Auto mit der längsten durchschnittlichen Lebensdauer seiner Zeit (acht Jahre).

1914 stellte Ford die Produktion auf Fliessband um, womit der Preis um mehr als die Hälfte gesenkt werden konnte. Nun konnten sich selbst die Arbeiter der Autofabrik ein Auto leisten - wozu sie von ihrem Arbeitgeber freilich auch genötigt wurden.

Henry Ford beschrieb - oder besser: stilisierte - seine Firmenphilosophie, die von der Managementlehre von Frederick Taylor («Taylorismus») geprägt war, in mehreren Büchern, wodurch er Anhänger im linken wie im ganz rechten politischen Spektrum fand. Adolf Hitler und Henry Ford bewunderten sich gegenseitig.

Mit Gülle gegen die «allgemeine Kalamität»

«Autofeindlich» gilt heute als ein abwertendes Attribut, das selbst grüne PolitikerInnen von sich zu weisen pflegen. Diese Haltung zum Automobil hat sich erst entwickeln müssen - vor hundert Jahren war die Schweiz weit entfernt davon. Ein Blick auf die Zeit um 1908 zeigt, wie Menschen normalerweise auf eine Maschine wie das Auto reagieren. Oder besser: Wie Menschen auf das Automobil reagierten, als man sich noch nicht daran gewöhnt hatte, die Schäden, die es anrichtet - so gering diese im Vergleich zu heute waren -, als normal zu akzeptieren.

In den meisten Kantonen lag die Höchstgeschwindigkeit bei dreissig Stundenkilometern ausser- und zehn Stundenkilometern innerorts. In Graubünden waren Autos von 1900 bis 1925 ganz verboten. Deutsche Automobilzeitschriften warnten vor Fahrten in die «autofeindliche» Schweiz, vor allem in die Bergkantone. 1908 wurde am Walensee ein amerikanischer Automobilist von der Bevölkerung misshandelt, 1909 der Milliardär Vanderbilt im Kanton Luzern von Bauern verprügelt, ebenso wie ein Jahr später ein deutscher Kavalleriehauptmann. Das Bewerfen von Autos mit Gegenständen war alltäglich. 1911 leerte ein Knecht am Zürichsee gar ein Güllenfass in ein Auto.

Das aargauische Mumpf schützte sich 1907 mit einem (illegalen) Schlagbaum gegen Autos. Im Jahr darauf schrieben 42 Aargauer Gemeinden - erfolglos - an den Grossen Rat: «Die unterfertigten Gemeinderäte sehen sich veranlasst, die Aufmerksamkeit Ihrer h. Behörde auf einen Übelstand zu richten, der zu einer allgemeinen Kalamität zu werden droht. Es betrifft die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, hervorgerufen durch die unsinnige, immer mehr überhandnehmende Automobilraserei. Es kann nicht länger zugesehen werden, wie diese Fahrzeuge (...) die Staats- und Gemeindestrassen occupieren.»