Finanzkrise: Vor aller Augen

Nr. 42 –

Die Ursache liegt in der Deregulierung der Arbeitsbedingungen in den USA. Die Durchsetzung der gleichen mörderischen Wirtschaftsrezepte muss in der EU und der Schweiz verhindert werden, schreibt der Präsident des Gewerkschaftsbundes.


Wir erleben seit Wochen das kapitale Scheitern des Monetarismus, das Scheitern des Neoliberalismus, einer Ideologie, die, ausgehend von Milton Friedmans Ideen, 1973 in einem offenen Feldversuch mit Waffengewalt in der Militärdiktatur in Chile durchgesetzt wurde. Dann kamen Ronald Reagan und Margaret Thatcher und der weltweite Siegeszug von Vorstellungen, die all das auf den Kopf stellten, was nach dem Zweiten Weltkrieg die Basis für die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Entwicklung gewesen war: der soziale Ausgleich, der interventionistische Staat, die Chancengleichheit für alle.

Mit den neuen Vorstellungen kamen die masslose Bereicherung der Reichen, Lohnexzesse für die Manager, die jetzt, mit manipulierten Eigenkapitalrenditen von zwanzig Prozent und mehr, unmittelbar zum Systemrisiko geworden sind. Und als Gegenstück dazu wurde die Zerstörung der kollektiven Regelungen, das Zurückdrängen des Service public und der systematische Angriff auf den Sozialstaat gepredigt. Der Neoliberalismus ist eine Ideologie der sozialen Ungerechtigkeit. Wir erleben also das Scheitern von Vorstellungen, die nicht nur die gesellschaftlich tragenden Werte zerstören, sondern auch wirtschaftlich in eine Katastrophe geführt haben, aus der nur die öffentliche Hand heraushelfen kann.

Vorbild AHV

So offensichtlich der Monetarismus und der Neoliberalismus gescheitert sind, so wenig sind bisher die politischen Konsequenzen aus diesem Scheitern gezogen worden - es sitzen noch immer jene am Drücker, die für die gigantische Misere verantwortlich sind.

Nehmen wir aktuelle Beispiele aus der Schweiz: Vor aller Augen produziert die erste Etappe der Stromliberalisierung das Fiasko, das aufgrund der weltweiten Erfahrungen vorauszusehen war. Die Antwort auf dieses Fiasko heisst nicht mehr Markt, auch nicht mehr regulierter Markt, wie einige Linke meinen, sondern Rückkehr zur öffentlichen Stromversorgung. Die Schlüsselinfrastrukturen gehören unter die Kontrolle der öffentlichen Hand.

Oder die Altersvorsorge: An der Spitze des zuständigen Departements haben wir einen freisinnigen Desperado, der im Gegensatz zu seinen VorgängerInnen nichts Besseres weiss, als die AHV als Basis unserer Altersvorsorge schlechtzumachen und herunterzufahren. Die Finanzkrise demonstriert vor aller Augen die Überlegenheit der AHV vor allen anderen Formen der Altersvorsorge. Sie ist ein genial einfaches, solidarisches sowie wirtschaftlich und sozialpolitisch leistungsfähiges Sozialwerk. Die AHV ist das Gegenstück zum Wahnsinn der Finanzspekulationen.

Grundsätzliche Weichenstellung

Darüber hinaus geht es um eine grundsätzliche Weichenstellung in der Finanzpolitik. Wir haben die groteske Ausgangslage, dass Bundesrat Hans-Rudolf Merz mit der ausserordentlichen Schuldenbremse eine Finanzpolitik aufgegleist hat, die - wenn es so weitergeht - dazu führen würde, dass der Staat sich finanziell zunehmend selber strangulieren müsste. Schon heute kann der Bund zentrale Infrastrukturprojekte wie die Zürcher Durchmesserlinie der Eisenbahn nicht mehr wie beschlossen finanzieren. Gleichzeitig schwimmen die Kantonal- und die Raiffeisenbanken im Geld. In der Finanzkrise gibt es ja nicht zu wenig, sondern zu viel Geld, das dringend eine Anlage sucht. Und wer ist ein besserer Schuldner als der Bund? Es braucht jetzt ein Investitionsprogramm. Das Geld dafür ist da, so billig wie kaum je. Statt die Löcher bei den Banken zu stopfen, muss das Geld jetzt sinnvoll und real investiert werden.

Wovon bisher kaum gesprochen wurde: Was war die unmittelbare Ursache des Finanzkollapses? Es war die Immobilienkrise in den USA. Diese Krise war aber nicht einfach eine Kreditkrise. Die Ursache liegt weit tiefer, nämlich darin, dass die einfachen Leute ihre Häuser nicht mehr bezahlen konnten. Und was ist der Grund dafür? Dass die Leute zu wenig verdienen und dass sie vom Lohn nicht mehr leben können. In den USA werden die Reallöhne und die Arbeitsbedingungen nun seit zwanzig Jahren systematisch gedrückt und heruntergefahren. Und wenn die Löhne der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr zum Leben reichen, dann nützen auf Dauer auch Kredite und Hypotheken nichts.

In Europa sollen jetzt genau die gleichen mörderischen wirtschaftspolitischen Rezepte durchgesetzt werden. In der EU hat der Europäische Gerichtshof in den letzten Monaten ein paar Urteile gefällt, mit denen die Gesamtarbeitsverträge ausgehebelt und die Gewerkschaften behindert wurden und das bisherige fundamentale Prinzip, dass die Arbeitsbedingungen am Arbeitsort massgebend sind, plötzlich nicht mehr gelten soll. Was jetzt passiert, hat staatsstreichartige Dimensionen. Wenn es in Westeuropa unter dem Titel Dienstleistungsfreiheit plötzlich legal wird, osteuropäische Löhne zu bezahlen, dann ist das ein Freibrief für alle LohndrückerInnen und der Startschuss zur allgemeinen Senkung der Löhne. Das Ergebnis sehen wir jetzt in den USA.

Offensive Kampagne

Aber nicht nur in der EU, auch in der Schweiz gibt es solche Pläne. Beim öffentlichen Beschaffungswesen schlagen das Departement Merz und die BrandstifterInnen von der Wettbewerbskommission die gleiche Lohndumpingpolitik vor, wie sie derzeit vom Europäischen Gerichtshof aufgegleist wird. Diese Pläne müssen wir stoppen, bevor es dafür zu spät ist. In der Schweiz muss zu Schweizer Löhnen gearbeitet werden. Das ist das Prinzip der flankierenden Massnahmen. Bei den Arbeitsbedingungen gibt es keine Konzessionen.

Wir liegen mitten in Europa. Wir sind direkt und indirekt davon betroffen, was in Europa passiert. Deshalb hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund im Europäischen Gewerkschaftsbund den Vorschlag für eine neue grosse Kampagne eingebracht, um die Aushöhlung der Arbeitsbedingungen durch den Europäischen Gerichtshof zu stoppen. Der Vorschlag für eine offensive Neupositionierung der europäischen Gewerkschaften steht unter dem vorwärtsgerichteten Slogan «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Der wirtschaftspolitische und soziale Wahnsinn der Degradierung der Löhne kann und muss gestoppt werden. Und zwar durch offensive Gewerkschaften mit einer offensiven Kampagne, im Bündnis mit anderen sozialen Bewegungen und den fortschrittlichen Parteien. Und im Bündnis mit der wirtschaftspolitischen Vernunft, nachdem nun alle, die Augen im Kopf haben, sehen müssten, was passiert, wenn die Wirtschaft den neoliberalen Marktrezepten überlassen wird.

Paul Rechsteiner ist Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) und SP-Nationalrat. Dieser Text ist eine leicht gekürzte Fassung seiner Rede am ersten Unia-Kongress vom vergangenen Wochenende in Lugano.