Zeitzeuge: Die Welt aus Blei - vorbei

Nr. 42 –

Der Typograf und langjährige Gewerkschaftspräsident Erwin Gerster erlebte über die Jahrzehnte den Untergang seines Berufes. Heute sei auch die Gewerkschaft in einer schwachen Position, meint der 89-Jährige.


«Herr Gerster, was feiern Sie am 18. Oktober?» Erwin Gerster lacht und weicht erst mal aus: «Ich weiss ja gar nicht, ob ich eingeladen werde!» Dann kommt er gleich auf den Tag der Typografie zu sprechen, die mehrstündige Veranstaltung, die am Nachmittag stattfindet. Das ist der Programmteil, der ihn besonders interessiert. Schliesslich hat er Jahrzehnte lang mit Lettern und Winkelhaken hantiert, dem ursprünglichen Handwerkszeug des Schriftsetzers.

Die Typografenlehre hat Gerster von 1935 bis 1939 in der Buchfabrik Bodan, der heutigen Bodan AG, in Kreuzlingen absolviert. Der Handsatz, bei dem spiegelverkehrte Bleibuchstaben aus Setzkästen ausgewählt und in eine Schiene eingespannt werden, wird heute nur noch für bibliophile Ausgaben oder in kleinen Privatdruckereien verwendet. Auch zu Gersters Lehrzeit waren längst Setzmaschinen im Einsatz; ihre Entwicklung begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dass Erwin Gerster bis zu seiner Pensionierung als Handsetzer hat arbeiten können, war eine Ausnahme und ein Privileg zugleich. Aber wie ist er überhaupt auf diesen Beruf gekommen?

Der Onkel und die Büchergilde

Erwin Gerster kam 1919 in Kreuzlingen als viertes Kind eines Dachdeckers zur Welt. Zum Glück hatte einer der Brüder die Absicht, einmal das väterliche Geschäft zu übernehmen, sodass der Jüngste seinen Wunschberuf erlernen konnte. «Ich war immer anders», sagt er, «mich hat es zu den Büchern hingezogen.» Kennengelernt hatte er das Typografenhandwerk durch seinen Onkel. Gottlieb Gerster, übrigens der Vater der Märchenerzählerin Trudi Gerster, war nicht nur Typograf von Beruf, sondern auch Initiant der Schweizer Büchergilde. Das war für Erwin auch eine Art erster Kontakt mit der Gewerkschaft. Die Büchergilde Gutenberg war 1924 in Leipzig vom Bildungsverband der deutschen Buchdrucker gegründet worden. Mit dieser Buchgemeinschaft wollte man, ganz in der Tradition der Arbeiterbewegung, ärmeren Leuten durch preiswerte Bücher den Zugang zur Bildung und Kultur ermöglichen. Die sorgfältig hergestellten Bände findet man heute noch in Antiquariaten, wo sie nach Wohnungsräumungen landen. In ihren besten Zeiten hatte die Gilde in der Schweiz mehr als 100 000 Mitglieder. Erwin Gerster wurde später selber Vertrauensmann der Büchergilde und machte Hausbesuche.

Der angehende Schriftsetzer schloss sich einer Lehrlingsgruppe des Schweizerischen Typographenbundes STB an und besuchte fleissig Vorträge. «Der STB», so erzählt er, «war in dieser Hinsicht besonders fortschrittlich, hatte spezielle Bildungsvereine für Handsetzer, für Maschinensetzer, für Drucker, für Stereotypeure.» Schon in ihren Anfängen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Gewerkschaften neben dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen stets auch Bildung und Geselligkeit zum Ziel. Viele hatten ihren eigenen Gesangsverein.

Der frischgebackene oder besser: der frisch gegautschte Setzer Erwin Gerster wäre gerne auf Wanderschaft gegangen, zum Beispiel ins Welschland. Diese Form der praktischen Lebens- und Berufsschule war damals noch üblich. Als Mitglied des Typographenbundes hätte er an jedem fremden Ort Anrecht auf ein «Viatikum», einen Reisezustupf, gehabt. Stattdessen folgten Rekrutenschule und tausend Tage Aktivdienst. Immerhin wurde er ab und zu in die Setzerei abkommandiert, wenn das Militär etwas zu drucken hatte.

Mehr Freiheit und mehr Macht

Nach dem Krieg, er war inzwischen verheiratet, nutzte Gerster jede Gelegenheit, um sich beruflich weiterzubilden und zu verändern. Von der Winterthur AG wechselte er zur Calendaria Immensee und von dort zu C. J. Bucher nach Luzern. An der dortigen Kunstgewerbeschule wurde er Fachlehrer im Nebenamt, später auch Prüfungsexperte für Handsetzer. Während seines gesamten Berufslebens hat Erwin Gerster Lehrlinge ausgebildet. In Bern, wohin er mit seiner Familie 1953 zog, leitete er die Lehrlingsabteilung der Verbandsdruckerei. Bei seinem letzten Arbeitgeber, der Firma Pochon-Jent, später «Der Bund», war er zeitweise für vierzehn Lehrlinge und Lehrtöchter verantwortlich. Man kann sich den freundlichen Mann gut als Lehrmeister vorstellen. Wahrscheinlich war er ruhig und geduldig, aber auch unerbittlich, wenn es um Sorgfalt und Qualität ging.

In den letzten Jahrzehnten habe eine Verluderung in der Typografie stattgefunden, meint Erwin Gerster. Über die hässlichen Schriftbilder mit fehlenden oder viel zu grossen Abständen, über die unmöglichen Trennungen und die vielen Fehler kann er nur den Kopf schütteln. «Früher hätte man doch kein Buch gedruckt, bei dem eine Seite mit einer Ausgangszeile, also der letzten Zeile eines Absatzes, beginnt. Das hätte man doch anders umbrochen!» Noch schlimmer dünkt ihn aber die Verarmung, die der Beruf erfahren hat, und er blickt mit Bedauern auf die Leute, die heute Texte verarbeiten müssen. «Wir konnten noch gestalten», meint er. «Vor allem in der sogenannten Akzidenzdruckerei, den Drucksachen, die nicht Buch oder Zeitung betreffen. Da hatte man viel Freiheit, konnte mit dem Kunden diskutieren, Entwürfe machen. Das liegt heute nicht mehr drin.»

Vorbei auch das Gemeinschaftsgefühl, das entsteht, wenn viele Menschen nebeneinander an Setz- und Druckmaschinen arbeiten. Da lag es nahe, dass man sich organisierte und gemeinsam für Verbesserungen kämpfte. Heute brauchts für all die Vorgänge kaum noch Leute.

Dass Maschinen einmal wichtiger sein würden als Menschen, hatte der Gewerkschafter Gerster schon vor Jahrzehnten vorausgesehen, als er zu Kongressen der Internationalen Grafischen Föderation IGF in halb Europa unterwegs war. Eine Druckerei in Finnland ist ihm besonders in Erinnerung geblieben. Dort hatten computergesteuerte Maschinen bereits einen Grossteil der Arbeit übernommen.

«Es nützt nichts, irgendetwas nachzutrauern», meint er, «aber früher wäre ohne uns Berufsleute keine Zeitung erschienen. Heute geht es auch ohne uns, das ist unsere Schwäche! Man kann höchstens noch die Auslieferung bestreiken, aber da muss man aufpassen, dass man sich nicht auf Betriebsboden befindet, sonst können sie die Polizei rufen.»

Ob er selber je gestreikt habe? «Nein», sagt er, «es ging immer knapp daran vorbei. Die Konflikte liessen sich am Verhandlungstisch lösen.» Dies ist wohl vor allem Gersters Verhandlungsgeschick und seiner sachlichen Art zuzuschreiben. Von 1967 bis 1989 war er Zentralpräsident des STB, der sich 1980 mit dem Schweizerischen Buchbinder- und Kartonageverband zur Gewerkschaft Druck und Papier GDP zusammengeschlossen hatte. Eine Entwicklung, die ganz im Sinne Gersters war - er, der den Kantönligeist in den Gewerkschaften immer angeprangert hat. «Wir hätten uns schon früher zusammenschliessen sollen, aber die Lithografen wollten nicht. Das Gleiche bei den anderen Gewerkschaften. Wenn man bedenkt, wie lange es gedauert hat, bis die Unia entstanden ist!»

Die Gunst der Stunde nutzen

Über sich selbst spricht Erwin Gerster nicht so gern. Aber liest man die Artikel, die in der Gewerkschaftspresse über ihn erschienen sind, so ergibt sich ein beeindruckendes Bild. Der Mann hat während Jahrzehnten ein enormes Pensum erledigt, von 400 Sitzungsstunden im Jahr ist die Rede. Alle Ämter und Funktionen übte Gerster stets nebenbei aus; eine Zeit lang war er nicht nur Zentralpräsident, sondern auch Hauptsprecher des Verbandes. Am Arbeitsplatz hingegen hat er sämtliche Karriereangebote abgelehnt. Er wollte nie Vorgesetzter sein, nie über seine Kollegen gestellt werden.

Gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft, Ende der sechziger Jahre, gab es eine schwierige Phase. Es herrschte Hochkonjunktur, die Beschäftigungslage war gut. Da fanden einzelne Gruppen, man müsse die Gunst der Stunde nutzen und mehr herausholen. Sie lehnten die bewährte Verhandlungstaktik und die Kompromisse ab.

«Diese progressiven Gruppen kamen meist aus den Städten», erinnert sich Erwin Gerster. «Dort hatte sich die Konjunktur viel stärker ausgewirkt, mancherorts wurde mehr bezahlt, als vertraglich vorgeschrieben war. Diese Kollegen hatten das Gefühl, die neuen Verhandlungen würden ihnen ja gar nichts bringen. Aber man muss das Gesamtinteresse im Auge haben.» Die Turbulenzen hielten an, und Erwin Gerster war in jener Zeit bei manchen Kollegen nicht unumstritten. Sie hätten sich eine härtere Haltung gewünscht. 1981 kam es zu einer Erneuerungswahl für das Zentralpräsidentenamt und dabei zu einer Wahlfälschung. Dieses Vorkommnis bezeichnet Erwin Gerster rückblickend als grösste Enttäuschung in seiner langen Zeit als Gewerkschafter.

Mit grosser Freude hingegen weist er auf die Zeitschrift «Typografische Monatsblätter TM» hin. Sie ist aus der «Helvetischen Typographia» (Jahrgang 1857) hervorgegangen, und Erwin Gerster hat als Präsident der Redaktionskommission dafür gekämpft, dass sie nicht einging. Heute ist TM eine preisgekrönte Fachzeitschrift für GrafikerInnen und DesignerInnen.

Und wo bleiben die Frauen?

Frauen bleiben über Jahrzehnte Randerscheinungen in der Geschichte der Gewerkschaft. In den Druckereien und Buchbindereien waren sie höchstens Hilfsarbeiterinnen. Erwin Gerster erwähnt die sogenannten Einlegerinnen. Als es noch keine Rotationsmaschinen gab, mussten Frauen die einseitig bedruckten Zeitungsbögen so hinlegen, dass sie auch auf der Rückseite bedruckt werden konnten.

Oder die Tasterinnen, die etwa ab den sechziger Jahren die Bänder tippten für die lochbandgesteuerten Setzmaschinen. Diese Berufsfremden mischten den Verband, ohne zu wollen, ganz schön auf. Man versuchte, sie zu organisieren. Aber das ging oft nicht, weil sie stundenweise arbeiteten - manche Kollegen nannten sie deshalb «Stundenhühner». Zudem ging das Gerücht um, es handle sich oft um Ehefrauen von Gutsituierten, die sich sowieso nur ein Taschengeld verdienen wollten.

Erwin Gerster und seine Frau Erika gehören einer Generation an, bei der es selbstverständlich war, dass die Ehefrau, wie es so schön heisst, «dem Mann den Rücken freihielt», damit er all seine Funktionen überhaupt erfüllen konnte. Zwar sagt Erika Gerster, sie habe sich nie um die Gewerkschaftsarbeit gekümmert. Aber sie weiss auffallend gut über Namen, Jahreszahlen und Ereignisse Bescheid. Oft hat sie auch auf der Tribüne gesessen und die Verhandlungen im Saal mitverfolgt, manchmal mit Bangen.

Das Gespräch im Hochhaus in Bümpliz nimmt ein rasches Ende. Das Ehepaar macht sich auf an die Vernissage der Ausstellung zum hundertsten Geburtstag von Emil Zbinden im Kunstmuseum Bern. Sie hatten den Künstler persönlich gekannt, und der war nicht nur Zeichner und Holzschneider, sondern eben auch Typograf gewesen.

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