Sonderfall: «Wir sind weder Fisch noch Vogel»

Nr. 39 –

Die Steckdosen und die Telefonvorwahl sind deutsch, die Milch im Kühlschrank kommt aus der Migros. Carina Schweizer lebt in Büsingen, der deutschen Enklave im Kanton Schaffhausen.


Bis zur deutschen Grenze sind es nur 700 Meter. Eine öde Landstrasse führt von Büsingen durch den Kanton Schaffhausen nach Deutschland. Die Landstrasse teilt die Ackerlandschaft, wohnen tut hier niemand. Es ist dieser verlassene Flecken Schweiz, der Büsingen von Deutschland trennt und es zu dem macht, was es ist: eine kleine deutsche Insel in der Schweiz. Neben dem italienischen Campione ist Büsingen die zweite Enklave in der Schweiz. Eine Enklave ist ein Teil eines fremden Staatsgebietes, der vom eigenen Staatsgebiet rundum eingeschlossen ist.

Politisch gehört Büsingen zum Landkreis Konstanz, also zum Bundesland Baden-Württemberg. «Aber wirtschaftlich und kulturell sind wir auf Schaffhausen ausgerichtet», sagt Carina Schweizer in bestem Schweizerdeutsch und serviert zum Kaffee Mandelschnitten aus Schaffhausen. Die 73-Jährige lebt seit ihrer Kindheit in Büsingen und ist heute Ehrenbürgerin der rund 1500 EinwohnerInnen zählenden Gemeinde. Büsingen war lange Spielball fremder Mächte und ist bis heute ist ein völkerrechtliches Kuriosum. Schuld daran ist ein Familienstreit.

Der Vogt im Gefängnis

Ausgelöst hat den Krach Eberhard Im Thurn, der damalige Vogt in Büsingen. Dieser liebäugelte zum Missfallen seiner Verwandten immer wieder mit dem Katholizismus. Und das, obwohl Büsingen und das benachbarte Schaffhausen im 17. Jahrhundert schon längst reformiert waren. Im Thurn zerstritt sich schliesslich mit den reformierten Vettern seiner Frau in Schaffhausen derart, dass sie ihn bei einem vermeintlichen Versöhnungsgespräch kurzerhand entführten und in Schaffhausen ins Gefängnis warfen.

Die Strafe kam postwendend: Das katholische Österreich unterstützte Im Thurn und entzog den Schaffhausern die Gerichtsbarkeit über Büsingen, die schliesslich an das katholische Grossherzogtum Baden überging. Im Thurn war konsequent: Als er ein paar Jahre später aus dem Gefängnis kam, trat er zum katholischen Glauben über. Büsingen aber blieb bis heute reformiert. Und bis heute blieb es unter fremder Herrschaft. «Zum ewigen Ärgernis», wie Carina Schweizer sagt.

Ewig liegt auch der Hattinger Grenzstein schon mitten im Rhein. Ein Gletscher hat den Findling aus Kieselkalk vom Säntis bis nach Büsingen transportiert. Er ist der Stein Nummer eins der 122 Grenzmarken, die die Grenze zwischen der Enklave Büsingen und der Schweiz auszeichnen. Der Stein wird schon im 15. Jahrhundert urkundlich erwähnt und diente damals vor allem der Abgrenzung von Fischgründen. Bei durchschnittlichem Wasserstand liegt er etwa eineinhalb Meter unter dem Wasserspiegel. «Manchmal», sagt Carina Schweizer, «bei tiefem Wasserstand, kann man ihn sehen.» Heute sieht man ihn nicht. So, wie man rund um Büsingen auch keine Grenzposten mehr sieht. Das war nicht immer so.

Nie war die Frage, wohin die BüsingerInnen gehören, wichtiger als im Krieg. Büsingen, damals ein Bauerndorf mit rund tausend EinwohnerInnen, wurde 1938 «die reichsdeutsche Insel in der Schweiz» genannt. Die Nationalsozialisten der Schweiz wollten in Büsingen sogar ein Zentrum bauen; der Gemeinderat hatte bereits beschlossen, dass der Bauplatz beim Fuchswäldli kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Der Krieg kam dem Bauvorhaben zuvor.

«Wohlbeleibte Menschen»

Carina, später die erste Frau im Gemeinderat, war zu Kriegszeiten noch ein Kind. «Während des Kriegs gab es rund um Büsingen Grenzposten. Man musste eigentlich immer einen Pass mit sich tragen. Selbst im Wald gab es Patrouillen», sagt sie. Wer in der Schweiz arbeitete oder landwirtschaftliche Produkte verkaufte, der bekam Schweizer Rationierungsmarken, die übrigen BüsingerInnen mussten mit deutschen Bezugsmarken Vorlieb nehmen, die weniger wert waren. Gegen Kriegsende wurde Büsingen ganz dem Schweizer Rationierungssystem angeschlossen. In Hamburg schrieb «Die Welt» über Büsingen: «Hier werden Schweizer Stumpen geraucht ... [es gibt] Würste, Fleisch, Butter, Käse ... rund aussehende, wohlbeleibte und zufriedene Menschen.» Verglichen mit dem übrigen Deutschland war es das Paradies. Die BüsingerInnen haben das den SchweizerInnen bis heute nicht vergessen. Doch Büsingens Blutzoll war hoch: 66 Soldaten aus der Gemeinde starben im Zweiten Weltkrieg.

«Wir zahlen doppelt»

Im Schaffhausischen eine Stelle zu finden, war für eine Büsingerin selbst 1954, ein paar Jahre nach dem Krieg, keine einfache Sache. Auch wenn sie so vif war wie Carina. Die Kantonalbank wollte sie zwar einstellen, doch das Arbeitsamt erteilte die notwendige Arbeitsbewilligung nicht: «Eine Staatsbank kann keine Ausländer anstellen.» Carina war sauer. Schliesslich fand sie eine Stelle beim «Schaffhauser Intelligenzblatt», den heutigen «Schaffhauser Nachrichten». Auch dort wurde sie nur als «Arbeiterin» eingestellt, und der Aufenthalt in den Büros war ihr vertraglich strengstens untersagt. «Auf dem Papier zumindest», sagt Carina Schweizer und schmunzelt.

Dann verliebte sie sich in Ernst, der damals beim FC Büsingen kickte. Im rot-weissen Dress, im einzigen deutschen Verein in der Schweizer Liga. Mit der Heirat bekam Carina zusätzlich zur deutschen auch die Schweizer Staatsangehörigkeit – und dazu auch gleich den passenden Namen: Schweizer. «Damals war der Schweizer Pass noch wertvoll», sagt sie. «Heute muss man damit ja am Flughafen länger warten als mit dem EU-Pass.» Und seit die Schweiz nun auch bei Schengen dabei ist, braucht sie den Pass gar nicht mehr zu zeigen, wenn sie nach Deutschland fährt.

Herbststürme fegten über das Land im Oktober 1967, Carina Schweizer erinnert sich gut daran. Es ist das Jahr, als Büsingen endlich ins Schweizer Zollgebiet aufgenommen wurde. Der Staatsvertrag regelt den Alltag der BüsingerInnen bis heute massgeblich: Im Verkehr mit der Schweiz gibt es keine Zölle mehr, die Büsinger LandwirtInnen bekommen Schweizer Subventionen, und das Dorf wird auch von der Schaffhauser Polizei kontrolliert.

«Wir sind weder Fisch noch Vogel», sagt Carina Schweizer. Aber man sei sich dieser Doppelnatur im Alltag eigentlich gar nicht bewusst. Merken tue man es erst, wenn es ums Geld geht. «Wir zahlen doppelt: die hohen Steuern der Deutschen und die hohen Lebenshaltungskosten der Schweizer.»

Aber die BüsingerInnen haben sich mit der Unterstützung der SchweizerInnen erfolgreich gewehrt. Seit einigen Jahren bekommen sie aus der Schweiz die Mehrwertsteuer zurückerstattet. Der Vertrag über die Mehrwertssteuer wurde im Büsinger Restaurant Waldheim unterschrieben. Dort läuft die Landesgrenze quer über die Terrasse, und die Lebensmittelkontrolleure kommen jeweils gleich zweimal: von deutscher und von schweizerischer Seite. Den Büsinger Riesling bezahlen aber die meisten mit Schweizer Franken. «Heute ist Büsingen im Vergleich mit anderen deutschen Gemeinden eine reiche Gemeinde», sagt Carina Schweizer, «aber auch überaltert.»

Das Hochzeitsparadies

Büsingen ist nicht nur die einzige Exklave Deutschlands, es ist auch die Gemeinde mit dem höchsten Durchschnittsalter in ganz Deutschland. Es sind die Steuern, die Büsingen zu einem Dorf der Alten machen. Die Jungen ziehen über die Gemeindegrenze nach Schaffhausen, weil dort der Steuerfuss einen Bruchteil vom deutschen Satz in Büsingen beträgt. Es fehlen Kinder im Dorf, die Schule steht ständig kurz vor der Schliessung. Und während die Jungen in die Schweiz fliehen, ziehen ältere SchweizerInnen gerne nach Büsingen. «Auch hier ins Haus», sagt Carina Schweizer und deutet einen Stock tiefer. Schuld sind wieder die Steuern: Nach deutschem Recht ist ihre Altersrente bis jetzt gänzlich steuerfrei.

Büsingen verkauft sich heute als Hochzeitsparadies. Die Trauungen finden in der über tausendjährigen Bergkirche statt, idyllisch auf einem Hügel östlich des Dorfes gelegen. Carina Schweizers Augen leuchten, wenn sie von der Kirche erzählt. Die Hochzeitsgesellschaft schmaust dann meist in der weitum bekannten «Alten Rheinmühle». Und wer sich nach dem Festmahl die Füsse vertreten will, der kann dem ausgeschilderten «Enklavenweg» entlangschlendern.

Büsingen macht das Beste aus seiner besonderen Lage und weiss seinen Sonderstatus zu vermarkten. Dass die BüsingerInnen bei jeder Gesetzesänderung auf Schweizer oder auf deutscher Seite für die eigenen Anliegen verhandeln müssen, daran haben sie sich längst gewöhnt. In Büsingen ist eben alles ein bisschen anders. Und dass man als kleine Gemeinde ein solcher Sonderfall ist, darauf sind die BüsingerInnen auch stolz. Ähnlich wie die SchweizerInnen eben.