Die Grasveredler: Plastik von der grünen Wiese

Nr. 42 –

Erst hat er dafür gesorgt, dass Zürich wieder ein eigenes Bier hat. Jetzt will Roland Rüegsegger mit seinem Partner eine ganze Industrie neu erfinden. Zu Besuch bei der Firma Biowert, die aus Gras allerlei herstellt. Und dabei den geschlossenen ökologischen Kreislauf neu erfindet.


Die Anlage steht auf einer von Hügeln umgebenen Wiese. Beim Näherkommen sieht man als Erstes den Speicher der Biogasanlage mit der Kuppel, die aussieht wie ein Riesenballon, der in einem Riesenrohr feststeckt. Die anderen Gebäude sind weniger spektakulär: eine Halle, in der die Inputstoffe für die Anlage eingespiesen werden (Rindergülle und Speisereste etwa), ein Blockheizkraftwerk, eine weitere Halle mit der Produktionsanlage und ein kleines Bürogebäude. Wie ein Ort, wo die Industrie neu erfunden wird, sieht das also nicht aus.

Biowert, die Firma des Zürcher Biologen Roland Rüegsegger und seines Partners Michael Gass, ist noch jung, klein und unbekannt. Und wenn die beiden sagen, sie würden Gras veredeln, dann führt das bei manchen ZuhörerInnen erst mal zu einer dezenten Aufwärtsbewegung der Augenbrauen: «Ach so, Hanf.» Nein, nicht Hanf. Gras. Einfaches Weidegras, frisch von der Wiese. Gras, wie es die Kühe mögen. Gras, das aber noch viel mehr kann, als Vieh mit Energie zu versorgen. Gras besteht etwa zur Hälfte aus Zellulose. Und Zellulose wiederum ist eine Faser, mit der sich einiges anstellen lässt. Papier beispielsweise wird aus Holzzellulose hergestellt – Zellulose aus Gras wurde bisher noch nicht industriell weiterverarbeitet. Zwar besteht ein grosses Interesse, aus Graszellulose Ethanol herzustellen, laut Energie Schweiz ist die Technologie derzeit aber weder ausgereift noch wettbewerbsfähig.

Auch die Geschichte von Biowert begann mit Ethanol. Bioenergie Schaffhausen wollte 2001 als erstes Unternehmen Wiesengras zu Energie machen und liess dafür im Industriequartier der Stadt die erste Grasraffinerie bauen. Rüegsegger war Projektleiter beim Bau der Produktionsanlage, und Gass war als Zelluloseexperte zuständig für die Entwicklung der Faserverwertung. Der Bund unterstützte das Projekt, die Bauern machten mit, aber das ambitionierte Projekt scheiterte, bevor die Kinderkrankheiten behoben waren und das Unternehmen schwarze Zahlen schreiben konnte: 2003 sprangen die privaten Investoren ab, und Bioenergie Schaffhausen musste Konkurs anmelden. «Wir standen kurz vor dem Durchbruch», erzählt Rüegsegger, «und wir glaubten zu hundert Prozent an die Technologie. Deshalb taten wir uns zusammen und kauften mithilfe eines anderen Investors die Produktionsanlage aus der Konkursmasse heraus.» Energieverwertung war aber nicht das, was ihnen vorschwebte. Sie hatten andere Ideen.

Aus Gras wird Kunststoff

Rüegsegger und Gass suchten in ganz Europa nach einer Biogasanlage, an die sie ihre Produktionsanlage anbinden konnten, eine grössere als jene in Schaffhausen. «Wir wollten eine Biogasanlage, mit der wir die Abfallprodukte von Biowert und weitere Inputstoffe weiterverwerten können, anstatt dass sie entsorgt werden.» Was Biowert auch braucht, sind Landwirte, die nicht von der Viehwirtschaft leben, «denn wir brauchen das Gras. Wir sind sozusagen die technische Kuh für die Landwirtschaft.» In Brensbach im Odenwald, keine Stunde von Frankfurt entfernt, sind die landwirtschaftlichen Bedingungen für Biowert zwar nicht ideal, weil dort immer noch viele BäuerInnen Kühe halten, aber Rüegsegger und Gass fanden dort die Biogasanlage, die sie brauchen. Sie brachten die Produktionsanlage aus Schaffhausen hierher und entwickelten sie weiter. Seit zwei Jahren können sie produzieren.

Es sind Industrieprodukte mit seltsamen Namen, die Biowert herstellt. Einblasdämmstoff zum Beispiel. Das zur Gänze aus Graszellulose bestehende Material nennen sie Agricell. Es wird zur Isolation von Gebäuden verwendet und muss feuersicher sein. Erstaunlicherweise ist es das – praktisch ohne chemische Zusätze. Weshalb das möglich ist, will Rüegsegger aber nicht sagen: «Das Patentverfahren ist noch nicht abgeschlossen.» Alle notwendigen Zulassungen haben sie aber, und der ökologische Dämmstoff findet auch bereits Anwendung.

Ein weiteres Produkt von Biowert ist die Unterputzdose. Solche braucht es für Schalter und dergleichen. Sie stecken in der Wand, in ihnen verstaut der Elektriker beispielsweise Drähte. Die Unterputzdose besteht nicht wie der Dämmstoff fast nur aus Zellulose, sondern aus einem Kunststoffgranulat, dem sie den Namen Agriplast gegeben haben. Die Unterputzdosen sind nicht das Einzige, was aus dem Granulat, das zu 40 bis 45 Prozent aus Zellulosefasern und zu 55 bis 60 Prozent aus Polyethylen respektive Polypropylen besteht, hergestellt werden kann. Denkbar sind Tausende weitere Produkte. Man stelle sich irgendetwas aus hartem Plastik vor, und die Chance ist gross, dass dieses Produkt auch aus dem ökologischeren Agriplast hergestellt werden könnte. Der Vorteil an diesem Kunststoff ist, dass er sehr viel weniger Erdöl enthält als synthetische Kunststoffe.

Industrie im Kreislauf

Roland Rüegsegger ist ein drahtiger 46-Jähriger, der sich geschmeidig bewegt, schnell spricht und noch schneller denkt. Nach einer Maschinenmechanikerlehre studierte er Biologie. Das war in den Neunzigern, als es in Zürich allerlei illegale Bars gab. Da wurde Bier getrunken, aber bald sollte es kein lokales Bier mehr geben. Die Löwenbräu-Brauerei wurde stillgelegt, ebenso jene von Hürlimann. Die grösste Stadt der Schweiz ohne eigenes Bier? Rüegsegger und ein Kollege sagten sich: Das geht doch nicht, brauen wir ein neues Züri-Bier. Das ist die Geschichte vom Turbinenbräu-Bier, etwas verkürzt. Eine Erfolgsgeschichte. Verdient hat er damit nichts, sagt Rüegsegger, aber viel gelernt. Mitunter, dass man mit vermeintlichen Schnaps- respektive Bierideen Erfolg haben kann.

Auf dem Gelände von Biowert in Brensbach trifft eine Gruppe von Männern ein. Zwei Vertreter vom Landeslabor Hessen und ein paar regionale Bauern. Es ist ein wichtiges Treffen, denn es geht um den Dünger, und noch sind die Bauern nicht so richtig davon überzeugt, dass der von Biowert genauso gut ist für das Wachstum ihrer Pflanzen wie der mineralische Dünger, den sie bisher auf ihren Feldern ausbrachten. Für die Ökobilanz von Biowert ist es wichtig, dass ihr Nebenprodukt Dünger regional verwertet wird: «Es wäre die Idealsituation, wenn dieselben Bauern aus der Umgebung, die uns mit Gras beliefern, auch unseren Dünger nehmen.» Einen Vorteil haben die Unternehmer aus der Schweiz auf ihrer Seite: Mineralischer Dünger ist enorm energieintensiv in der Produktion und so auch vom Erdölpreis abhängig. Der Dünger von Biowert hingegen ist von Erdöl- und anderen Börsen unabhängig, er ist lokal hergestellt, ökologisch (der Dünger kann laut Rüegsegger auch in der Biolandwirtschaft eingesetzt werden) und ist Teil eines Kreislaufsystems.

Dieses sieht so aus: Die Bauern liefern Grassilage (gegärtes Gras aus dem Silo). Von dieser wird in der Grasveredelungsanlage die Zellulosefaser herausdestilliert. Der Abfall, konkret Grasgülle, geht in die angeschlossene Biogasanlage. Aus dieser wiederum fliesst Wasser und Abwärme in die Grasveredelungsanlage – für die Energie, die es für die Produktion benötigt. Den Strom, der die Biogasanlage zusätzlich erbringt, speist Biowert ins öffentliche Netz ein, und die Gärresten gehen als hochwertige ökologische Dünger und Feststoff zurück aufs Feld der Bauern. Mit dem Feststoff wird dem Boden auch wieder Kohlenstoff und Phosphor zugeführt.

Wie die Ökobilanz von Biowert aussieht, lässt Rüegsegger derzeit von Esu-Services, einem unabhängigen Prüfer in der Schweiz, abklären. Je nach Resultat werden die Unternehmer wieder über die Bücher gehen, «unser Geschäftskonzept entwickelt sich aufgrund von Ökobilanzüberlegungen», sagt der Tüftler. Er rechnet aber mit einem guten Ergebnis. Wer ihm zuhört, gewinnt den Eindruck, dass Nachhaltigkeit bei Biowert tatsächlich an oberster Stelle steht. Wäre er Hersteller von biologischen Kräutertees, man würde ihm sofort glauben.

Aber Rüegsegger und sein Partner stellen Produkte her, die es nicht im Bioladen zu kaufen gibt. Es sind industrielle Güter, und da denkt man erst mal an Energieverschleiss, viel Abfall und Chemie. Rüegsegger sagt: «Genau. Und nun stelle man sich vor, diese Industrie wäre energieneutral, würde nachwachsende Rohstoffe verwenden und keinen Abfall produzieren. Das ist unsere Idee, unser Konzept. Wir möchten eine neue Industrie erschaffen. Ohne Chemie. Zusammen mit der Landwirtschaft.» Er rechnet vor: «Jetzt, mit dieser einen Fabrik, die in einem Verbundsystem funktioniert, ist der Effekt regional und global gesehen also minim. Aber wenn die Grasveredelung zu einem industriellen Sektor wird, wenn sich saubere Landwirtschaft, Technologie und Energiewirtschaft verbinden – wenn sich das durchsetzen kann, dann wird das einen enormen Effekt geben, auch ökologisch. Es ist eine Technologie, die sich in den Kreislauf der Natur und in die Verwertung von Naturstoffen einpasst und technische Produkte draus macht. Das ist ein neuer Bereich.»

Dazu, dass diese Industrie dann allerdings auf den Wiesen stehen wird, weil sie – aus Ökobilanzgründen – nah bei den Bauern sein muss, fragt Rüegsegger zurück: «Ja. Was ist das Problem? Was wollen wir? Auch Ökologie gibt es nicht mehr gratis.»

Müde, aber visionär

Das Bundesamt für Energie (BFE) begleitet und unterstützt Biowert, auch finanziell. Aktuell beteiligt es sich an den Kosten für die Prüfung und Zulassung der Unterputzdosen. Besteht das Produkt die Tests, wird Biowert die Schweizer Firma Ammer mit dem Granulat beliefern, die daraus die Dosen spritzgiessen und auf den Markt bringen wird. Für das BFE, das die Technologieentwicklung von Biowert von Anfang an unterstützt hat, ein Glücksfall. Vor allem, wenn daraus viele KMU-Arbeitsplätze entstehen sollten.

Aber was würde ein durchschlagender Erfolg der Grasveredelung für die Landschaft bedeuten und vor allem für die Nahrungsmittelproduktion, die dadurch womöglich unter Druck käme? «Nein, kommt sie nicht», sagt Rüegsegger. «Wir sind ja primär keine Energieproduzenten, wir stellen nicht Kraftstoff für Fahrzeuge her. Wir wollen mit den Landwirten zusammenarbeiten, die schon jetzt Gras anbauen. Ihnen, die bereits heute unter starkem Druck stehen – Stichwort Milchpreis –, sagen wir: Ihr müsst nicht aufgeben oder umsatteln – ihr könnt weiterhin Gras anbauen, und anstatt dass ihr es den Kühen verfüttert, verkauft ihr es uns. Wir bieten den Bauern eine neue Einnahmequelle.» Ausserdem gebe es in strukturarmen Regionen wie im Osten Europas Tausende von Hektaren landwirtschaftlich nicht mehr genutztes, brachliegendes Land. «Das ist ökologisch natürlich schon gut so», sagt Rüegsegger, «aber wenn man dort mit sinnvoller Industrie Arbeitsplätze schaffen könnte, würde das den Menschen in diesen Regionen mehr bringen.»

Die Vertreter des Landeslabors Hessen und die Bauern sind wieder gegangen, Rüegsegger wirkt müder als zuvor. Seine Vision ist gross, aber die Herausforderungen im Jetzt sind es auch. Er gönnt sich im Stehen eine Zigarette. Erzählt, dass er jeden Freitag im ICE zurück nach Zürich fährt, wo er immer noch lebt, jedenfalls an den Wochenenden. Gut, gibt es dort in jeder Lieblingsbar ein lokales Bier, das ihn daran erinnert, wie aus einer Schnapsidee etwas Grosses werden kann.


Wirtschaft zum Glück

Dieser Artikel ist der dreizehnte Beitrag der WOZ-Serie «Wirtschaft zum Glück», in der wir nachhaltige Produktions- und Eigentumsformen, neue Ideen für eine neue Ökonomie und ökologisch sinnvolle Projekte vorstellen. Finanziert wird diese Serie aus einem Legat des früheren Nachhaltigen Wirtschaftsverbandes WIV.