Obwalden: Sarnen – Sibirien retour

Nr. 47 –

Am 29. November entscheidet die Bevölkerung, ob es in Obwalden Sonderzonen für Reiche gibt. Die WOZ weiss: Bald werden hier auch einzelne Finanzgeschäfte eines russischen Metallunternehmens konzentriert. Eine kleine Weltgeschichte.


Es gibt ein Drehbuch, und es trägt den Titel «Langfriststrategie 2012+». Erstellt hat es die Obwaldner Regierung zu Beginn dieses Jahrzehnts als Ausgangslage für ihre künftige Politik. Einer der zentralen Sätze daraus: «Den ganzen Kanton als ein Unternehmen auffassen.» Die Grundpfeiler der Strategie bilden steuerliche Massnahmen, das Kantonsmarketing sowie die Raumentwicklung.

Der Ablauf, seither: 2005 wird das Obwaldner Steuergesetz revidiert. Die Tarife bei den Einkommens- und Vermögenssteuern verlaufen degressiv (wer mehr verdient, zahlt verhältnismässig weniger als schlechter Verdienende). Die Gewinnsteuer wird auf 6,6 Prozent gesenkt. Im Folgejahr nimmt das Kantonsmarketing, die sogenannte Standortpromotion in Obwalden, den Betrieb auf. 2007 erklärt das Bundesgericht degressive Steuerverläufe für verfassungswidrig. Daraufhin führt Obwalden die Flat-Rate-Tax ein (wer mehr verdient, zahlt verhältnismässig gleichviel wie schlechter Verdienende). Die Gewinnsteuer wird auf sechs Prozent gesenkt. Das ist der tiefste Tarif für Unternehmen in der Schweiz, oder im Jargon des Kantonsmarketings: Ein «Alleinstellungsmerkmal». Im Frühling 2009 kündigt Obwalden Sonderbauzonen für Reiche an.

Mindestens neun Gebiete von bis zu 5000 Quadratmetern, an sonniger Lage und mit unverbaubarer Aussicht, sollen einkommens- und vermögensstarken Personen vorbehalten bleiben. Die Grünen Obwalden haben das Referendum ergriffen. Die Abstimmung findet am Sonntag in einer Woche statt. Sie könnte knapp ausgehen: Inzwischen kritisiert der Heimatschutz, die Sonderzonen würden noch nicht einmal einem Baureglement unterstehen. Auch zahlreiche Bauern sind skeptisch.

Für die gesamte Strategie liess sich die Obwaldner Regierung von aussen beraten: Vom Beratungsbüro BHP Hanser und Partner in Zürich. Jährlich erstattet die Regierung dem Parlament auch einen Wirkungsbericht: Diesen Frühling wurde vermeldet, dass zwischen 2006 und 2009 die Zahl der Eintragungen im Handelsregister von 2044 auf 3153 gestiegen sei. Bei der Mehrzahl dürfte es sich um Briefkastenfirmen handeln.

Wie ein Krokodil

Zwei dieser Eintragungen betreffen den Metallkonzern Norilsk Nickel, der zu den zehn grössten russischen Unternehmen zählt (vgl. Kasten «Norils Nickel» weiter unten): In Sarnen wird im April 2008 die Zweigniederlassung einer Norilsk Nickel International Finance (Cyprus) SA gegründet. Kurz darauf verlegt die Norilsk Nickel Holding SA ihren Sitz von Genf nach Sarnen.

Der Bergbau- und Schwerindustriestandort Norilsk ist die nördlichste Stadt in Sibirien. Die Durchschnittstemperatur beträgt minus zehn Grad, während zwei Dritteln des Jahres ist Norilsk schneebedeckt. Die Stadt, in der 132 000 Menschen leben, ist nur mit dem Flugzeug oder per Schiff zu erreichen.

«Ich soll Ihnen Norilsk beschreiben? Das wäre, wie wenn Sie noch nie ein Krokodil gesehen hätten, und ich sollte Ihnen ein Krokodil beschreiben», sagt Wladimir Kuznetsow am Telefon und lacht. Kuznetsow ist der Moskauer Vertreter des Blacksmith Institute. 2006 hat die US-amerikanische Umweltorganisation aus 300 verschmutzten Regionen die zehn schlimmsten weltweit ausgewählt. 2007 wurde die Liste in Kooperation mit Green Cross Schweiz neuerlich publiziert. Beide Male war Norilsk aufgeführt.

Geschlossene Stadt

Die Schmelzöfen lassen jährlich vier Millionen Tonnen Arsen, Blei, Cadmium, Kupfer, Nickel und Zinn in die Luft, heisst es in der Begründung. Der Boden ist im Umkreis von sechzig Kilometern um die Stadt mit Kupfer und Nickel verseucht. Die Lebenserwartung liegt zehn Jahre unter dem russischen Durchschnitt. Kinder, die nahe den Fabriken aufwachsen, werden eineinhalbmal häufiger krank als jene, die weiter weg wohnen. Unter den Kindern von Norilsk sind Erkrankungen der Atemwege eine verbreitete Todesursache.

«Das Problem ist, dass die Industrieanlagen aus der Sowjetzeit stammen und immer noch weiterlaufen», sagt Kuznetsow. «Zwei von drei befinden sich in der Stadt selbst.» Als Norilsk auf die Liste kam, reagierte der Nickelkonzern deutlich: In einem offenen Brief strich er alle seine Umweltschutzaktivitäten hervor, für die er bis 2015 eine Milliarde Euro ausgeben will. Ausserdem lud er das Blacksmith Institute zu einem Besuch ein. Auch Kuznetsow war dabei.

«Norilsk ist seit 2001 eine geschlossene Stadt. Wer sie als Fremder betritt, kriegt Probleme.» Weshalb? «Ich kenne die Gründe nicht.» Haben Sie mit ArbeiterInnen gesprochen? «Sie sind stolz auf ihre Stadt. Die meisten gehen dorthin, um zehn bis fünfzehn Jahre zu arbeiten und mehr Geld zu verdienen als der Durchschnitt.» Wie steht es um die Natur? «Die Landschaft ist dunkel, braun und grau. Langsam kehren die Pflanzen zurück, die in der Sowjetzeit abgestorben waren.» Aber? «Diese Stadt hat grosse Probleme. Der Konzern sagt, er mache viel – man könnte deutlich mehr tun. Der Konzern verspricht eine Milliarde – es bräuchte mehrere Milliarden. Es geschieht nur dann etwas, wenn es Druck gibt», sagt Kuznetsow.

Die Geschichte der Firma und ihrer Stadt, die einst Teil des Gulag war, ist in der interdisziplinären Zeitschrift «Osteuropa» beschrieben. «Das Lager lesen» ist der Titel einer 2007 erschienen Ausgabe. Das Norilsker Lager, schreibt darin der Historiker Simon Ertz, kam «dem Idealtypus eines stalinistischen Lagers aussergewöhnlich nahe». 1929 hatte Stalin die Weisung erteilt, in entlegenen Lagern die Arbeitskraft von Häftlingen auszunutzen, um die Industrialisierung voranzubringen.

Die AdministratorInnen des Gulag betrachteten die Gefangenen de facto als eine Ressource. «Hunger und Auszehrung, Erschöpfung und Übermüdung, Mangelkrankheiten und Infektionen, mangelhafte Hygiene und Arbeitsunfälle waren alltägliche Erfahrungen», schreibt Ertz. Das Norilsker Lager durchliefen von 1935 bis 1956 insgesamt 270 000 Häftlinge. Mindestens 1000 verloren dabei ihr Leben, eine weitaus grössere Zahl büsste ihre Gesundheit ein.

Nach Stalins Tod 1953 kam der Grossteil der Gefangenen frei, was zu einem Mangel an Arbeitskräften führte. Mit materiellen Anreizen wurden jetzt FacharbeiterInnen in den Norden gelockt. Die Entdeckung neuer Nickelvorkommen führte dazu, dass die Sowjetunion deutlich mehr Nickel produzierte, als sie für den heimischen Bedarf benötigte. Ab Mitte der siebziger Jahre wurde der Überschuss exportiert.

Den Gewinn verschieben

Der Hauptsitz von Norilsk Nickel liegt heute in Moskau. In den Schweizer Handelsregistern finden sich neben der Zweigniederlassung Norilsk Nickel International Finance (Cyprus) Ltd. und der Norilsk Nickel Holding SA in Obwalden zusätzlich die Norilsk Nickel Services SA in Genf und die Metal Trade Overseas SA in Zug. Zweck der ersten drei Firmen sind Finanztätigkeiten. Die Metal Trade Overseas ist zuständig für den Kauf und Verkauf sowie Import und Export von Metallen und Rohstoffen.

Im Jahresbericht 2008 von Norilsk Nickel ist der Zweck der Holding mit «Investment» angegeben, jener der Metal Trade mit «Distribution». In der globalen Konzernstruktur kommt zur Obwaldner Zweigniederlassung noch die eigentliche Investment Holding auf Zypern hinzu. Auch dort liegt die Unternehmenssteuer extrem tief.

«Eine solche Struktur» erklärt Andreas Missbach, der Steuerexperte der entwicklungspolitischen Erklärung von Bern, «deutet in der Regel darauf hin, dass der Gewinn einer Firma an jenen Ort verschoben wird, wo man dafür am wenigsten Steuern bezahlen muss.» Eine Methode dazu heisst «Transfer-Pricing»: Der Hauptsitz in Moskau würde die Waren der Tradingfirma in Zug unter Wert verkaufen – mit der Folge, dass in Russland der zu versteuernde Gewinn sinkt. Eine weitere Methode, so Missbach, ist die «Thin-Capitalisation»: Die Holdings in Sarnen oder Zypern würden in diesem Fall dem Hauptsitz in Moskau Kredite mit überhöhten Zinsen gewähren – mit der Folge, dass in Russland Schulden anfallen.

«Formell sind solche Operationen meist legal und sogar mit den jeweiligen Steuerbehörden ausgehandelt. Nur sind sie nicht legitim, weil der Gewinn nicht im Produktionsland bleibt», sagt Missbach.

Glückliche Oligarchen

Norilsk Nickel gehört heute dem Oligarchen Wladimir Potanin. Die neuere Geschichte der Firma lässt sich ebenfalls in der erwähnten Ausgabe von «Osteuropa» nachlesen: Demnach wurden in der Phase der russischen Privatisierung bis 1995 zwei Drittel der Aktien an der Börse platziert, ein Drittel blieb in Staatsbesitz. Potanin, der zusammen mit Michail Prochorow an der Spitze der Oneksimbank stand, kaufte sich wohl als einer der Ersten Aktien. 1996 sicherten sich Potanin und Prochorow die Kontrolle über den Staatsanteil und damit über Norilsk Nickel. Dies im Rahmen einer der berüchtigten «Aktien-für-Kredite-Auktionen». Dabei stellten Banken dem Staat einen Kredit zur Verfügung – gegen staatliche Aktien, weit unter ihrem Wert. Zahlte der Staat nicht rechtzeitig, gingen die Aktien an die Privaten über.

Gegen die Privatisierung von Norilsk Nickel wurde mehrmals Strafanzeige erstattet, die Ermittlungen sind allerdings im Sand verlaufen. 2007 trennten sich Potanin und Prochorow. Prochorow verkaufte seinen Anteil dem Aluminiumkonzern Rusal und stieg dort im Gegenzug ein. 2009 schlug er eine Fusion von Norilsk Nickel und Rusal zu einem Branchenriesen vor. Die weiteren Eigentümer von Rusal sind die Oligarchen Oleg Deripaska, Viktor Vekselberg sowie die Schweizer Rohstoffhandelsfirma Glencore. Vorläufig sind die Fusionspläne aufgeschoben.

Die beiden Norilsk-Niederlassungen in Sarnen führen beide zu Treuhänder Adriano Imfeld: Bei der Holding verfügte er einst über eine Kollektivunterschrift. Bei der Zweigniederlassung fungiert er als Leiter. Adriano Imfeld: lic. oec. HSG, diplomierter Wirtschaftsprüfer, politische Karriere zum Kantonsratspräsidenten, von 2001 bis 2007 Nationalrat für die CVP, stramm rechts politisierend, Hauptthemen: Steuerfragen und Obwalden. Kein Gespür für die Umwelt (Ja zur Avanti-Initiative).

Letzte Woche zeigte sich Imfeld gegenüber der WOZ «grundsätzlich» bereit zu einem Gespräch über die Steuerpolitik seines Kantons und Norilsk Nickel. Anfang dieser Woche teilte er mit, er sei doch nicht der richtige Interviewpartner. Er habe sich aus der Politik zurückgezogen und widme sich seinem Treuhandbüro, das auf einheimische KMU spezialisiert sei.

Es gibt ein Drehbuch, und alles wird offensichtlich. Von Sarnen nach Norilsk, von der geschlossenen Stadt in die Sonderzone: Es ist die gleiche Politik, die die sonnigen Lagen den Reichen opfert und von einer der verschmutztesten Gegenden der Welt profitiert. Eventuell trägt sie sogar dazu bei, dass die Steuern nicht im Produktionsland anfallen.

Zu Norilsk Nickel liess Adriano Imfeld noch ausrichten, dass die Zweigniederlassung im Rahmen eines «umfassenden Steuerrulings» mit den schweizerischen Steuerbehörden etabliert worden sei. Insgesamt beschäftige das Unternehmen in der Schweiz zwischen zwanzig und dreissig Personen. Man sei im Kanton Obwalden auf der Suche nach geeigneten Geschäftsräumlichkeiten, wo die bisher in Zug und Sarnen tätigen Angestellten «ihren endgültigen Arbeitsplatz einrichten können».

Er selbst sei voraussichtlich nur noch kurze Zeit Leiter der Zweigniederlassung. Die Nachfragen der WOZ, was denn die genaue Funktion der Finanzfirmen sei und ob er allenfalls von der Umweltverschmutzung wisse, liess Imfeld unbeantwortet.


Norilsk Nickel

Der Metallkonzern Norilsk Nickel ist Weltmarktführer in der Produktion von Nickel und Palladium, beim Platin belegt der Konzern weltweit Rang vier, beim Kupfer Rang zehn. 2007 betrug der Umsatz siebzehn Milliarden US-Dollar, während der Finanzkrise sank er 2008 auf vierzehn Milliarden. Norilsk Nickel beschäftigt weltweit über 90 000 Menschen. Eine Mehrheitsbeteiligung hält der russische Oligarch Vladimir Potanin.