Im Zürcher Weinland: «Verräumt endlich den Abfall»

Nr. 13 –

Zürich wählt am Wochenende. Wie beeinflussen die Ereignisse in Japan das Wahlverhalten? Erkundungen im Zürcher Weinland, wo seit Jahren um ein Atommüllendlager gestritten wird.


Hinter Winterthur Richtung deutsche Grenze öffnet sich einer der lieblichsten und konservativsten Landstriche der Schweiz. Nebel leckt an diesem Morgen an den nackten Äckern und Weingärten, kriecht aus den Waldinseln und schleicht um die Riegelbauten der putzigen Dörfer. Dreissigtausend Menschen leben hier, die SVP ist klar stärkste Partei, man hat hier in der Vergangenheit atomfreundlich abgestimmt. Und das Weinland ist Bauernland. AutofahrerInnen merken es an den mächtigen Traktorfuhrwerken, die den Verkehr verlangsamen. Auch am Stammtisch im Gasthof zum Bären in Trüllikon nehmen drei Männer nach der richtigen Hundeerziehung die Traktorfahrkünste der Bauern durch.

Doch nicht bloss WanderInnen und LiebhaberInnen einer schönen Kulturlandschaft haben die Vorzüge der Gegend erkannt. Das Zürcher Weinland ist seit den neunziger Jahren wegen eines möglichen Atommüllendlagers in den Fokus der Atomwirtschaft und in die Schlagzeilen geraten. Der Opalinuston zwischen Rheinau, Laufen-Uhwiesen, Benken, Trüllikon und Marthalen gilt dem technikgläubigen Homo Faber als sicheres «Wirtgestein» und als der geeignetste Standort in der Schweiz, um in mehreren hundert Metern Tiefe hochradioaktiven Müll einzuschliessen. Das hat auch semantische Langzeitfolgen: Im Jargon der Atomlobby heisst das Weinland inzwischen Standort Nord-Ost. Das passt besser zum strahlenden Müll als das idyllische «Weinland». Idyllen kann man zerstören. Standorte kann man austauschen.

Gemeindepräsidentin im Nebenamt

Im Herzen des Opalinustongebiets liegt das Dorf Benken. Das Wahlplakat passt zum Nebel: Da will ein Jürg Grau die Stimmen der Benkemer. Gartenzwerge, Osterglocken, klares Wasser aus vielen Dorfbrunnen, Riegelbauten, eine Kirche, 800 EinwohnerInnen. Und eine Gemeindepräsidentin im Nebenamt, die Landwirtin Verena Strasser. Sie ist «zahlendes» Mitglied der SVP. Das tönt nicht nach bedingungsloser Gefolgschaft. Die anderen vier Gemeinderäte sind parteilos. Strasser bittet vorbei an Wimpeln des Damenturn- und Schützenvereins in den Gemeinderatssaal.

Hat die Katastrophe in Japan die Menschen in der Region angesichts eines möglichen Baus eines Atommüllendlagers mehr erschüttert als anderswo? Verena Strasser sagt zuerst, dass sich der Gemeinderat in Sachen Tiefenlager «neutral» verhalte. Ob jetzt in der Bevölkerung die Stimmung gegen die Atomlobby kippt, weiss sie nicht: «Schwer zu sagen. Bisher hat man praktisch nur die Gegner des Tiefenlagers gehört. Jetzt höre ich vereinzelt Stimmen, die fordern: Verräumt endlich den Atommüll.» Mit anderen Worten: Realisiert das Atommüllendlager, aber subito. Was in Japan passiere, sei schlimm. Und würde ausreichend Strom produziert ohne AKW und weniger Strom verbraucht, wäre sie für einen sofortigen Ausstieg, sagt Verena Strasser. Aber noch werde Atomstrom produziert. Und der Müll müsse ja irgendwo gelagert werden. Wenn es nicht anders geht, halt im Weinland. So haben hier bisher viele gedacht.

Biohof mit Fotovoltaikanlage

Walter Schneller zählt nicht zu ihnen. Sein Hof liegt ausserhalb von Rudolfingen. Als der 46-Jährige vor gut zwanzig Jahren den Hof von seinen Eltern übernahm und auf bio umstellte, war er im Weinland ein Exot. Heute gibt es in jedem Dorf einen Biobetrieb. Walter Schneller sagt: «Seit zwei Wochen wissen wir wieder, was Restrisiko bedeutet.» Könnte er bestimmen, wären für ihn die Konsequenzen klar: Die Energiewende so schnell wie möglich einleiten, keine neuen AKWs bauen, die alten möglichst rasch abstellen.

Dann deutet er auf die Dächer seines Gehöfts, das er zusammen mit seiner Frau bewirtschaftet. Demnächst soll hier eine Fotovoltaikanlage installiert werden. Sie soll viermal mehr Strom liefern, als die Schnellers verbrauchen. Noch ist Japan weit weg. Aber die Weinländer haben ein Problem, das sie nie mehr loswerden würden, vor ihren Haustüren: «Mich kratzt das Atommüllendlager», sagt Schneller, der sich nicht politisch engagiert, aber meistens Grün wählt. Der Zeithorizont des strahlenden Mülls sei für menschliche Dimensionen unvorstellbar. Wie sich jetzt in Japan zeige, sei entscheidend, woran man nicht denke – auch bei einem Endlager. Zudem veränderte das Endlager auch die Landschaft. «Wir müssen endlich die Atomenergie für immer entsorgen», sagt Walter Schneller. Und ist damit im Weinland wohl noch immer in der Minderheit. Doch Walter Schneller glaubt, dass die Katastrophe in Japan die Menschen hier schockiert hat. «So dickhäutig sind wohl nur wenige, dass sie das verdrängen können.»

Kampf um die Wiederwahl

Martin Farner redet nicht wie ein Verdrängungskünstler. «Wenn die Katastrophe einen Politiker kaltlässt, ist er nicht glaubwürdig», sagt er in einem Hinterzimmer des Restaurants Schwert. Er werde als Gemeindepräsident von Oberstammheim von Jugendlichen im Dorf darauf angesprochen. Ihnen müsse man vernünftige Antworten geben. Er sitzt für die FDP ausserdem im Kantonsrat und ist, wie ein Grüner sagt, im Bezirk ziemlich beliebt. Farner hat Landwirt gelernt, ehe er als Manager ins Agrobusiness wechselte. Lange arbeitete er bei der Dachorganisation der schweizerischen Gemüsebranche. Und erinnert sich an die Folgen von Tschernobyl. «Damals mussten wir belastetes Gemüse in grossen Mengen vernichten», sagt er. Das habe Eindruck gemacht.

Farners Konterfei prangt überall an den Strassen im Bezirk Andelfingen. Der FDP-Mann kämpft um seine Wiederwahl. Nach Tschernobyl wurde ein Grüner gewählt, verdrängte damals allerdings einen ebenfalls grün eingestellten SP-Vertreter. Im Bezirk Andelfingen besetzte die SVP zwei der vier Kantonsratssitze, die FDP und die SP die anderen beiden. Gut möglich, dass die FDP Federn lassen muss. Sie gilt wie die SVP als Partei der Atomlobby. Ausserdem ist die Konkurrenz grösser. Neu kandidieren die Grünliberalen und die BDP im Bezirk.

Farner wirkt etwas nervös. Die FDP im Kanton Zürich und im Weinland habe sich für alternative Energien eingesetzt, sie habe sich für die Vereinfachung der Bewilligungsverfahren eingesetzt, betont er. «Ich bin kein Befürworter des Tiefenlagers, aber auf der anderen Seite müssen wir den Atommüll irgendwo sicher lagern, solange wir auf Atomstrom angewiesen sind. Wir sind auch unseren Nachkommen verpflichtet, eine sichere Lösung für dieses Problem zu finden.» Im Augenblick könne man nicht auf die Atomtechnologie verzichten, mittelfristig müsse man aussteigen.

Spezialist in der Partei

Luca Fasnacht lehnt das Atommüllendlager radikal ab. Und befürwortet den sofortigen Atomausstieg. Die Grünen und die SP im Weinland stellen sich auch gegen das Standortverfahren. «Wir wollen hier kein Atommüllendlager», sagt er. Obwohl erst 23, kämpft er schon seit Jahren gegen eine Lagerstätte im Weinland – mit fantasievollen Aktionen, aber vor allem mit Sachverstand.

In der Grünen Partei ist er der Spezialist in dieser Frage. Er lobt die Schaffhauser Regierung, die ebenfalls entschieden gegen ein mögliches Endlager eintritt, und kritisiert die bürgerlichen Parteien und die Behörden im Weinland. «Statt selber eine kritische Haltung zu entwickeln und die Argumente der Atomlobby zu hinterfragen, glauben sie einfach naiv parteiischen Fachleuten.» Dass nun die Nagra die Gemeinden und die Bevölkerung in ein für sie unverbindliches «Anhörungsverfahren» einbezieht, bezeichnet Fasnacht als Oppositionsfolklore und als scheindemokratisches Verfahren. Ob sich die Ereignisse in Japan im Weinland auf die Wahlen auswirken? «Das werden wir am 3. April wissen», sagt Luca Fasnacht trocken.

Er bekomme neuerdings mehr Zustimmung. Unglaubwürdig seien in der Frage der Atomkraft im Weinland mit Ausnahme der CVP alle bürgerlichen Parteien. Die Grünen und die SP haben hingegen in dieser Frage eine unzweideutige Haltung. Gut möglich, dass der Geschichtsstudent diesmal den Sprung in den Kantonsrat schafft. Bei den letzten Wahlen hätte er als 19-Jähriger auf der Liste der Grünen auf Anhieb beinahe ein Mandat geholt.