Anti-Atom-Menschenkette: 862 Hände gegen Mühleberg

Nr. 17 –

Aufbruchstimmung im Zeltlager, friedliche Umzingelung des BKW-Hauptsitzes. In Bern kämpfen drei Generationen.


«Es ist unglaublich, was hier entstanden ist», sagt Said. «Am Anfang hatten wir drei Zelte und einen Kugelgrill, wir dachten, die Polizei räumt uns schon in der ersten Nacht. Jetzt haben wir eine Küche, ein Veranstaltungszelt, eine warme Dusche, können Konzerte machen, alles mit Solarstrom.»

Said ist zwanzig. Seit drei Wochen beteiligt er sich an der Besetzung des Parks vor dem Hauptgebäude der Bernischen Kraftwerke AG (BKW FMB Energie) in Bern. Drei Generationen haben sich versammelt: weisshaarige Kaiseraugst-Veteraninnen, langjährige Reitschulaktivisten und viele Bekannte von Said, die meisten noch jünger als er.

Nicht mal Schimpfworte

Es ist Ostermontag. Am nächsten Tag, dem 26. April, soll eine Menschenkette um das BKW-Gebäude an den Super-GAU von Tschernobyl vor 25 Jahren erinnern. Das «Aktionstraining» unter der Leitung von zwei Umweltaktivisten haben die Anwesenden schon hinter sich. Sie haben Regeln aufgestellt: keine Gewalt, auch nicht verbal, und BKW-Angestellte, die zur Arbeit wollen, dürfen durch. Nicht alle sind darüber glücklich. Der Berner Aktivist Tom meint: «Ich habe schon an Menschenketten um die Gassenküche teilgenommen, um die Leute vor der Polizei zu schützen. Und da haben wir niemanden durchgelassen!» So würde er es auch morgen machen. «Es wäre ein Dienst an der Bevölkerung, wenn bei der BKW für zwei Stunden niemand arbeiten würde.»

Doch trotz der kleinen Meinungsverschiedenheiten ist die Stimmung euphorisch. Die Jungen sind begeistert von den Älteren: «Wir können ganz viel von ihnen lernen», sagt Said. Die Älteren schwärmen von den Jungen – etwa der über sechzigjährige Ibrahim: «Ich dachte, die wollen nur kiffen, dabei sind sie sehr interessiert.» Seit Tagen ist er im Camp und hat die Verantwortung für die grossen Espressokannen übernommen, die über einem Glutbecken dampfen. Er zieht die Parallele zur Bewegung in Ägypten, wo er herkommt. Auch die Jugend dort habe er unterschätzt.

Es ist eng im Park, unmöglich, nicht an einen Zeltpfahl oder ein Solarpanel zu stossen oder niemandem im Weg zu stehen. Umso beeindruckender der friedliche Umgang. Cécile (52) ist schon fast drei Wochen hier. «Ich dachte, wenn man etwas tun will, dann jetzt. Die Mischung macht vieles möglich, auch die Abgestürzten beginnen, sich zu engagieren, finden ein Jöbli ...» Manchmal gebe es Probleme mit «Hobbygangstern», die am Camp vorbeikommen, sagt Tom: Pöbeleien, zerrissene Zelte. Doch ernsthafte Zwischenfälle gab es keine, auch dank der Nachtwachen. Cécile: «Die Jungen backen Schlangenbrot und lesen sich die ganze Nacht ‹Die unendliche Geschichte› vor – um mich zu beschützen!»

Am nächsten Morgen füllt sich der Park schon um 6.30 Uhr morgens. Noch einmal wird per Megafon die Aktion erklärt, dann ziehen alle los um das Gebäude, bleiben nach und nach stehen, fassen die NachbarInnen an den Händen: Es reicht! Die Menschenkette schliesst sich, die Sonne geht auf, jemand zählt nach: 431 Menschen «umarmen» das herrschaftliche Gebäude. Die Polizei bleibt im Hintergrund, nur einige Securitas-Wächter können ihre Aggressionen kaum unter Kontrolle halten. Barblina (67) erzählt, wie ihre Freundin, eine Ärztin, vor 35 Jahren an der Gösgen-Demo den ganzen Tag die Augen ausgewaschen hat: «Das war kein Zuckerschlecken mit der Polizei damals.» Tina (19) sollte eigentlich in der Schule sein. Statt zu schwänzen, hat sie eine offizielle Absenz eingereicht: «Menschenkette vor der BKW».

Von der Securitas verscheucht

Zum Schluss treffen sich alle vor dem Haupteingang. Minutenlange Sprechchöre, oben klappen Bürofenster zu. Dann wird es still für eine Gedenkminute. Tina und ihre MitstreiterInnen bleiben noch auf der BKW-Treppe, bis sie von der Securitas verscheucht werden. Pläne haben sie viele: eine Sternfahrt nach Mühleberg zum Beispiel. Sie seien nicht nur gegen AKWs, sondern auch gegen den Kapitalismus. Doch am wichtigsten finden sie es zurzeit, das breite Bündnis zu erhalten. Es zeigt sich an zwei Transparenten, die friedlich nebeneinander hängen: «Die Erde ist zerbrechlich», steht auf dem einen. Daneben heisst es: «Bonzen und Fabriken ins Meer – dann brauchts keine AKWs mehr!»