«City of Change»: Demokratie exzessiv betreiben

Nr. 20 –

Wenn Demokratie sich nicht permanent erneuert, wird sie nur noch verwaltet. Das St. Galler Interkulturprojekt «City of Change» will ihr wieder auf die Sprünge helfen. Wie, verrät Projektmitarbeiter Rolf Bossart vom Amt für Theorie.


Der Begriff der Demokratie ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Sinn- und Hoffnungsträger geworden. Insbesondere durch den Siegeszug der Demokratie 1989 und durch die jüngsten revolutionären Bewegungen im arabischen Raum lässt sich erkennen, dass die demokratische Imagination eine treibende historische Kraft darstellt.

Obwohl Demokratie in einer bestimmten Perspektive nichts anderes ist als eine unter mehreren möglichen Techniken zur Machtteilung und ein Auswahlverfahren für das Personal der staatlichen Institutionen, wird sie nirgends darauf beschränkt. Noch in Winston Churchills zynischem Bonmot von der Demokratie als der besten aller schlechten Regierungsformen ist sie mehr. Indem jede Alternative bestritten wird, erhält die Demokratie einen Sinn zugesprochen, der weit über ein formales Verfahren hinausgeht.

Demokratie zu haben, gilt als Beweis für eine regierungstechnische Überlegenheit. Aber nicht unbedingt entspricht das stolze Selbstbewusstsein der DemokratInnen wirklichem demokratischem Ethos. Letzteres verlangt, dass alle Konflikte und Kräfte einer Gesellschaft demokratisch repräsentiert werden, dass alle Unverträglichkeiten und Klassenkämpfe eine Bühne finden, auf der auch Lösungen präsentiert werden können.

Es kann daher eine grosse Diskrepanz bestehen zwischen imaginierter Demokratie und real existierenden demokratischen Unternehmungen, die oft nichts als reine Verfahren sind. In aller Regel sind solche auf harmonische, störungsfreie Abläufe aus. Sie verhindern so offene Konflikte und damit vielleicht auch eine gute Lösung oder gar ein «Mehr an Gerechtigkeit», wie es der Philosoph Hans Saner nennt. Doch Demokratie, die mehr sein will als blosses Verwaltungsverfahren, braucht laut dem Politphilosophen Oliver Marchart die «konfliktuelle Praxis».

Ein illegitimer Kampf?

Gerade weil fest institutionalisierte, demokratische Verfahren dazu tendieren, herrschende Konflikte zu verdecken, Probleme zu verwalten, Unrecht zu negieren, bedarf eine Demokratie permanenter «Neugründungsakte», um nicht zu veralten und in die blosse Verwaltung zu kippen. Für eine solche Demokratie kann der zuweilen auch abwertend für eine entleerte Demokratie gebrauchte Begriff der «Neodemokratie» positiv gewendet werden. Neodemokratie ist die einzig wirkliche politisch verantwortliche Erscheinungsform der Demokratie. Sie ermöglicht permanent die Ausweitung ihrer eigenen Grenzen.

Selbstverständlich werden in einer erstarrten Demokratie, die sich auf Verfahren beschränkt, solche Ausweitungen bekämpft – mit der Begründung, demokratischer Pluralismus höre bei der Anerkennung der Grundlagen der Demokratie auf. Womit sich eine Einteilung in legitime und illegitime Ansprüche ergibt. Natürlich verschanzt sich die Verwaltungsdemokratie, indem sie die notwendigen Aktivitäten der um Rechte oder Zugänge kämpfenden Gruppen für illegitim erklärt.

Die Neugründungsakte im Sinne der Neodemokratie sind deshalb für eine verwaltende Demokratie immer illegitim. Saner erklärt diesen Sachverhalt in seinem Buch «Identität und Widerstand» (1988) wie folgt: «In der Demokratie des Verfalls wandelt sich das demokratisch Selbstverständliche zusätzlich zum Widerstand, sodass demokratisches Verhalten eine Gegenpraxis zur bestehenden Demokratie wird.»

Der fundamentale Makel

Es sind heute namentlich MigrantInnen, die das aktuelle Problem der Demokratie offenbaren. Sie und ihre Sache werden über zahlreiche Aufenthaltsregelungen und durch Aufspaltungen in Untergruppen in Teilprobleme zerlegt. Mit dem Effekt, dass Migration als mühseliger Verwaltungsaufwand erscheint und nicht als wesentlicher Teil der aktuellen Realität. Somit ist Migration ein ausgeschlossenes oder, anders gesagt, ein überzähliges Moment, das die Demokratie erneuern kann.

Die real anwesenden, aber als überzählig verleugneten MigrantInnen erscheinen in den Ängsten der Ansässigen vor Überbevölkerung und Jobverlust. Es käme darauf an, den Überzähligen eine demokratische Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Diese ist dort gegeben, wo sie sich von einer ausgeschlossenen Minderheit zu einer Gemeinschaft wandeln, die mit ihrer Stärke operiert: «Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will.»

Die Tatsache, dass mit den AusländerInnen in städtischen Gebieten einem Drittel der mündigen Bevölkerung die demokratischen Rechte entzogen sind, kann nur durch Leugnen der Realität bestritten werden. Damit droht der seit 1848 behauptete universalistische Anspruch der schweizerischen Demokratie erneut zu zerfallen.

Die einen fantasieren ein Land, in dem die ausländische Bevölkerung nur als unrechtmässig oder vorübergehend anwesend ist. Andere glauben gegen ihren demokratischen Instinkt, dass es wichtigere Probleme gibt und politische Rechte allein kein Problem lösen. Aber selbst für eine Verfahrensdemokratie bleibt der Fakt, dass ihr ein Drittel fehlt, ein fundamentaler Makel. Sie weist dadurch Merkmale einer auf ethnischen Kriterien basierenden Demokratie auf. Das angeblich Selbstverständliche wird als Skandal sichtbar.

Grenzen auflösen und mischen

Die Handlung, die diese Realitätsverleugnung aufheben kann, beginnt mit der Feststellung: Etwas fehlt. Im verhandelten Beispiel fehlt die Anerkennung, dass die Schweiz ein Einwanderungsland ist. Alle Verhältnisse müssen umgestossen werden, welche diese Anerkennung der Realität verhindern und verneinen. Dazu braucht es eine Einbildungskraft, die die vom herrschenden Diskurs als legitim und widerspruchsfrei behaupteten Zustände brechen, verwandeln oder wenigstens als ungenügend qualifizieren kann. Da Demokratie immer mehr sein muss als reines Verfahren, ist sie ein utopisches Gebilde im Werden. Einem solchen wird man allein durch Überforderung seiner Institutionen und durch imaginäre Überhöhung seiner Möglichkeiten gerecht.

Saner stellt fest, in einer zerfallenden Demokratie sei es notwendig, demokratische Rechte exzessiv auszuüben. Für eine Neodemokratie ist der demokratische Exzess die Garantie ihrer Entwicklungsfähigkeit. Der demokratische Exzess besteht zum Beispiel darin, demonstrativ demokratische Mittel an dafür noch nicht oder nicht mehr vorgesehenen Orten anzuwenden oder Institutionen übermässig und permanent zu beanspruchen. Er ist das unbotmässige Beharren und das Auf-der-Stelle-Tanzen.

Der demokratische Exzess will Situationen herstellen, die die verwaltende Demokratie zu Neugründungsakten bewegen. Zwar scheint er in seiner konkreten Form zunächst kaum politisch wirksam zu sein. Vielmehr irritiert er, fällt auf die Nerven, ärgert auch jene, die seine Anliegen teilen, scheint kontraproduktiv oder aus der Perspektive demokratischer Handlungen lächerlich. Ja, wenn man so will, ist er einfach nur L’art pour l’art oder er reduziert das Demokratische auf seinen aktionistischen Kern.

Aber ist nicht gerade das Zwecklose geeignet, die in einer festgefahrenen Situation notwendigen Grenzüberschreitungen und Neuverteilungen vorzubereiten, indem es die bisher klar getrennten Sphären mischt? So ist der demokratische Exzess zugleich nötig und sinnlos, legitim und illegitim, inszeniert und real, künstlerisch und politisch.

Weil in einer Demokratie in der Krise nicht mehr gesichert ist, welche demokratischen Verfahren tatsächlich eine demokratische Wirkung haben, ist die inszenierte Verunsicherung ein Akt der Aufklärung über die wahren Zustände. Das aber bedeutet: Der demokratische Raum ist neu zu verhandeln und zu besetzen. Der demokratische Exzess rettet mit künstlerischen Mitteln den universalistischen Anspruch der Demokratie.

Die «City of Change» ist ein demokratischer Exzess auf dem Weg zur Neodemokratie.


«City of Change»

In St. Gallen haben – wie in vielen Schweizer Städten – dreissig Prozent der SteuerzahlerInnen kein Stimm- und Wahlrecht. Mit «City of Change» will Milo Rau in Koproduktion mit dem Theater St. Gallen eine Diskussion lancieren, die auf diese Realität einwirkt.

Am Erscheinungstag dieser WOZ beginnt in der Lokremise eine Reihe von drei «Demokratie-Konferenzen». Eine Petition «zur Rettung der Demokratie in St. Gallen» fordert «eine Expertenkommission mit Vertretern aus allen Bevölkerungsteilen zur Erarbeitung einer zeitgemässen demokratischen Kantonsverfassung». Weitere Punkte: Stimm- und Wahlrecht für alle mündigen BewohnerInnen; neue Auswahlverfahren für demokratische Gremien, Symbole, Feiern und Denkmäler. Und: Eine neue Kantonsfahne, die das Rutenbündel ersetzt.

Am 16. Mai wurde per Los aus der Gesamtbevölkerung eine «Regierung des Wandels» gewählt.

www.city-of-change.ch