Isolierte Schweiz : Das Recht der Schwächeren

Nr. 5 –

In der offiziellen Botschaft zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ging es Bundespräsident Ueli Maurer offenbar vor allem um die eine Kernbotschaft: Die Schweiz sei damals «ein Land der Freiheit und des Rechts geblieben», das dem «immensen Druck des Auslands» widerstanden habe und «so für viele Bedrohte und Verfolgte zur rettenden Insel geworden» sei. Die Kritik von jüdischen Organisationen und HistorikerInnen kam prompt. Natürlich vergass der erste Vertreter des Blocher-Flügels der Schweizerischen Volkspartei, der es zum Bundespräsidenten gebracht hatte, zu erwähnen, dass die Schweizer Regierung 1942 die Grenzen schloss, obwohl sie um den Holocaust wusste. Auch fehlten die FlüchtlingshelferInnen, die dem Druck der schweizerischen Staatsmacht widerstanden und so einige Verfolgte retteten.

Für weniger Furore sorgte die Eröffnungsrede von Maurer am Weltwirtschaftsforum in Davos. Erstaunlicherweise platzierte er dort, an der Party der globalen Wirtschafts- und Politprominenz, dieselbe Kernbotschaft wie zum Gedenken an den Holocaust: Wir Schweizer sind besser und freier als ihr anderen, und wir erwehren uns eures Drucks! In Davos gab er sich als Bedenkenträger: «Der Druck von Mächtigen auf kleine, aber erfolgreiche Konkurrenten gibt mir zu denken.» Und sparte nicht mit chauvinistischen Belehrungen: «Wenn die Schweiz heute wirtschaftlich im internationalen Vergleich gut dasteht, haben wir das unserem freiheitlichen Staatssystem zu verdanken. Ich frage mich: Wäre es nicht besser, andere Staaten liessen sich von diesem Erfolg inspirieren, als dass sie unsere Ordnung verunglimpfen und bekämpfen?» Zum Glück nuschelte Maurer seine Rede so unbeholfen vor sich hin, dass die internationale Diplomatie den Affront wohl nicht richtig wahr- oder ernst nahm.

Es greift aber zu kurz, Maurers Reden nur als durchsichtigen Versuch eines Rechtspopulisten abzutun, seine Parteibasis zufriedenzustellen. Maurer macht dank seiner Antidiplomatie transparent, wie die schweizerische Aussenpolitik seit langem funktioniert: Gegenüber den «grossen Staaten» werden das Recht und der Schutz der Schwächeren eingefordert; das gilt, wenn die Schweiz selbst schwach und isoliert ist. Doch wo bleibt der Einsatz für die Schwächeren, wenn die wirtschaftlich starke Schweiz selbst die Rechte von schwächeren Staaten und deren Bevölkerungen bedroht?

Für Bundesrat und Parlament gibt es genügend Möglichkeiten, dem Recht der Schwächeren, das nun offenbar zum überparteilichen Konsens gehört, in der realen Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Nicht nur im Asyl- und Sozialrecht oder in der Kriegsmaterialverordnung. Sondern auch mit einer längst fälligen Gesetzgebung, die von schweizerischen Unternehmen die Respektierung grundlegender Rechte auch im Ausland einfordert. Die Schweiz zieht ja dank der von den «grossen Staaten» wenig goutierten Tiefststeuerpolitik viele multinationale Unternehmen an. Und diese sind zuweilen in Wirtschaftszweigen und Weltgegenden tätig, die nicht nur zu Steuervermeidung verleiten, sondern auch zu Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung.

Immerhin hat der Bundesrat kürzlich ein Bundesgesetz über Söldnerfirmen auf den Weg gebracht, das Menschenrechtsverstösse minimieren soll. Doch im für die Schweiz wichtigeren Bereich der Rohstoffe vertraut die Politik weiterhin auf freiwillige Massnahmen der Unternehmen. Im Gegensatz zu anderen Ländern weigert sich die Schweiz bisher, solche Selbstverantwortung mit gesetzlichen Vorschriften zu kombinieren. Selbst eine Schweiz, die in Sachen «Schutz der Schwächeren» lieber Wasser predigt und Wein trinkt, wäre aber gut beraten, das Reputationsrisiko durch Vitol, Glencore oder Nestlé genauso ernst zu nehmen wie dasjenige von Söldnerfirmen.

Der Bundesrat muss den Kollegen Maurer zurückbinden, damit dieser seine Bundespräsidentschaft nicht länger als Vehikel für parteipolitische Interessen missbraucht. Doch noch wichtiger ist es, endlich Tatbeweise dafür zu liefern, dass sich die offizielle Schweiz für die Rechte der Schwächeren einsetzt. Diese nur dann einzufordern, wenn die Schweiz in einer schwachen Position ist, ist keine ernst zu nehmende Aussenpolitik, sondern fadenscheiniges Gejammer.