Ausschaffungsurteil: Menschenrechte kommen zuerst

Nr. 7 –

Als die SVP im Dezember ihre Durchsetzungsinitiative einreichte, die die buchstabengetreue Umsetzung der im November 2010 angenommenen Volksinitiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer fordert, trug Parteipräsident Toni Brunner einen grossen Wecker bei sich und meinte: «Bundesrätin Sommaruga, wachen Sie endlich auf!» Ein Weckruf der anderen Art ging letzte Woche vom Bundesgericht aus: In einem Leitentscheid sprach es sich gegen automatische Ausschaffungen aus.

Die Geschichte hinter dem Urteil spielt mitten in der Schweiz. Ein Junge kommt mit sieben Jahren aus Mazedonien in den Thurgau. Er wächst hier auf, spricht bald nur noch deutsch, macht eine Anlehre als Maler. Als er neunzehn Jahre alt ist, lässt er sich von einem ehemaligen Schulkollegen als Drogenkurier einspannen. Sein Anwalt spricht von «falsch verstandener Kameradentreue». Der junge Mann wird zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt, zudem verfügen die Thurgauer Behörden seine Ausweisung. Dabei kennt er Mazedonien nur aus den Ferien und hat dort keine Verwandten mehr. Seit Beginn der Strafuntersuchung hat er hier mit Vater und Bruder ein Malergeschäft aufgebaut und sich verlobt.

Das Bundesgericht hob die Ausweisung nun auf. Es nimmt dabei Stellung zur Verfassungsbestimmung, die durch die Ausschaffungsinitiative verankert wurde. Danach sollen Straftäter mit ausländischer Staatsangehörigkeit automatisch ausgeschafft werden, ohne dass die Verhältnismässigkeit im Einzelfall geprüft wird. «Der Verfassungswortlaut steht in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu grundlegenden verfassungs- und völkerrechtlich von der Schweiz anerkannten Werten», sagen die BundesrichterInnen. Und halten fest: Besteht ein Normenkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, gehen die Menschenrechte vor. Die Verhältnismässigkeit ist deshalb einzeln zu überpüfen. Im vorliegenden Fall entschieden die RichterInnen, dass der Mann in der Schweiz bleiben kann, weil die Ausweisung gegen den Schutz des Privat- und Familienlebens verstösst, den die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert.

«Es ist ein deutliches Urteil. Das Bundesgericht hat dem politischen Druck standgehalten», meint Jörg Künzli, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern. «Allerdings ist das Urteil nicht revolutionär neu, sondern setzt die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Verhältnis von Völker- und Verfassungsrecht fort.» Neu sei bloss, dass eine Verfassungsbestimmung berücksichtigt wurde, die durch eine Volksinitiative beschlossen wurde.

Die SVP teilt wenig überraschend mit, das Bundesgericht wolle Volk und Parlament entmachten, mit einem «Richterstaat» als Folge. Bedenklicher ist der Kommentar der freisinnigen NZZ, das Bundesgericht nehme eine «einseitige Sichtweise» ein, wenn es das Völkerrecht höher gewichte als den Volkswillen. Als ob das Problem im verfassungsmässig garantierten Vorrang der Menschenrechte liege und nicht in einer anpasserischen Haltung gegenüber dem Rechtspopulismus.

Das Urteil stellt eine erfreuliche Zäsur dar: Es nimmt nach dem Spuk der Verwahrungs-, der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative die offensive Bekämpfung menschenrechtswidriger Bestimmungen wieder auf, wie das in den neunziger Jahren der Fall war, als das Parlament eine Initiative der Schweizer Demokraten für ungültig erklärte, die die Ausschaffung illegal eingereister Asylsuchender forderte. In der Logik des Urteils wäre auch der Bau von Minaretten denkbar, die Verfassung gründet schliesslich auf der Religionsfreiheit.

Eine offensive Politik könnte weiter bedeuten, dass die Diskussion über die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative rasch auf den Punkt gebracht wird: Auf Gesetzesstufe kann bei Ausweisungen kein Automatismus rechtens sein. Die Durchsetzungsinitiative, die diesen fordert, kann das Parlament für ungültig erklären. Für die Migrationspolitik gilt grundsätzlich: Die Menschenrechte zuerst.

Und vielleicht erscheint dereinst die Sonderstrafe der Ausweisungen als überholte Klassenjustiz, mitten in der Schweiz. Wie anders soll man eine Strafe auch nennen, die nur einer bestimmten Bevölkerungsgruppe droht: meist jungen, meist weniger gut ausgebildeten Menschen, die keinen Schweizer Pass haben.