Deutschland: Dreissig Stunden sind genug

Nr. 7 –

Nicht alle offenen Briefe sind vermeldenswert, dieser aber schon: Am Montag veröffentlichten in Deutschland über hundert Ökonomen und Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen sowie einzelne PolitikerInnen und Medienleute einen Aufruf, in dem sie für alle Beschäftigten eine Dreissigstundenwoche bei vollem Lohnausgleich fordern. Ohne kollektive Arbeitszeitverkürzung, heisst es im Untertitel des Papiers, gäbe es «nie wieder Vollbeschäftigung». Angesichts von rund sechs Millionen arbeitslosen oder unterbeschäftigten Menschen allein in Deutschland und dem «wirtschaftspolitischen Irrweg» der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben sei Arbeitszeitverkürzung «keine rein tarifpolitische Aufgabe mehr, sondern ein gesamtgesellschaftliches Projekt».

Eine umfassende Arbeitszeitverkürzung, argumentieren die AutorInnen des Briefs (darunter viele ProfessorInnen), sei «die einzige logische Antwort auf die jährlichen Produktivitätssteigerungen, die oberhalb der realen Wachstumsraten der Wirtschaft liegen». Nur eine radikale Reduktion der Arbeitszeit könne daher einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindern. Weniger als vierzig Stunden wöchentlich arbeiten derzeit – jedenfalls laut Tarifverträgen – nur die Lohnabhängigen der westdeutschen Metall- und Druckindustrie (35 Stunden), die Angestellten des Einzelhandels (37,5 Stunden) und die Beschäftigten des Bundes (39 Stunden). Doch in den vergangenen Jahren wurden diese Arbeitszeitregeln in vielen Betrieben wieder gelockert – auch weil die Gewerkschaften in die Defensive geraten sind. Vor allem sie, aber auch die Politik, die Sozialverbände und die Kirchen müssten nun handeln, heisst es im Bericht, der – wenn auch verklausuliert – die Gewerkschaftsführungen kritisiert. Mitte der achtziger Jahre hatten die Mitglieder von IG Metall und IG Medien (heute Teil der Grossgewerkschaft Verdi) in wochenlangen Streiks die 35-Stunden-Woche durchgesetzt. Inzwischen aber haben die Gewerkschaftsspitzen dieses einst strategisch so wichtige Kampfziel der ArbeiterInnenbewegung in den Schubladen verschwinden lassen. Vielleicht holen sie es jetzt ja wieder hervor.

http://www2.alternative-wirtschaftspolitik.de/uploads/m0413b.pdf