Buch: Der Lauf der Tragödie

Nr. 22 –

Die Nerven liegen blank: Filip bekommt einen Brief. Filip – einen Brief! Wie kann das sein!? Die nächsten Seiten verbringt man kopfschüttelnd, da Filip es partout nicht schafft, den Brief zu öffnen. Ist nur ein Brief, Junge, denkt man. Doch wir kennen Filip nicht. Und David Albahari, den Autor von «Der Bruder», womöglich auch nicht: Der aus Belgrad stammende und in Kanada lebende Albahari ist ein Meister dunkler Psychologien, doppelter Böden und abgründigen Humors.

Sein Lieblingsthema ist die vergebliche, bisweilen gefährliche Suche nach Identität. Und der Brief, den Filip öffnet, stammt von seinem Bruder. Allerdings hatte er bisher keinen – nur Eltern und eine Schwester, die allesamt tot sind. Albahari hat Filip, den nicht sehr erfolgreichen Autor des Romans «Das Leben eines Verlierers», als komplizierten Zauderer am Rand des Zusammenbruchs entworfen. Filip nervt. Nach endlosen Abwägungen bereitet er sich auf das Treffen vor.

Das Treffen mit dem Bruder in Filips ehemaliger Saufkneipe verläuft katastrophal: Die beiden verhaken sich, wetteifern, streiten schmerzhaft. Der Bruder, von den Eltern im Zuge der Repression in Jugoslawien 1968 für ein Diamantcollier verkauft, lebt in Australien, ist der erfolgreichere Autor und macht Filip zum Belüger seiner selbst, denn ein Verlierer ist er ja nun nicht mehr – mit Bruder. Filip, eher Antiheld als Held, denkt seltsame, unangenehme Dinge.

Eine Drehung nach der anderen macht diese Balkanvariante des Kain-und-Abel-Mythos. Irgendwann werden Geschlechteridentitäten infrage gestellt, alles wird schriller, schlimmer, existenzieller – und mündet in einen Gewaltakt, der so wahrhaftig scheint, dass er einen mit dickem Kloss im Hals zurücklässt. Gut, Tragödien müssen ihren Lauf nehmen. Hätte man vorher wissen müssen. Tat das aber nicht. Raffiniert, merkwürdig, grossartig.

David Albahari: Der Bruder. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2012. 176 Seiten. Fr. 28.40