«Das Jahr der gefährlichen Träume»: Die Bestie weicht in die Zukunft aus

Nr. 23 –

Soziale Unruhen, Occupy-Bewegung, Arabischer Frühling, das Attentat von Anders Breivik: In seinem Buch zu Ereignissen aus dem Jahr 2011 entwirft Slavoj Zizek eine «kognitive Karte» der Gegenwart.

Immer, wenn Slavoj Zizek ein neues Buch veröffentlicht, kommt von KritikerInnen der Vorwurf, es sei ungenau, unverständlich, fehlerhaft. Dieser Vorwurf ist teilweise berechtigt. Eine Null-Fehler-Kultur ist Zizeks Sache nicht: Es gibt in jedem Buch einen gewissen Prozentsatz «Ausschuss». Zizek lesen heisst immer auch sich die Freiheit nehmen, etwas zu überspringen.

Zizeks neustes Buch ist ein Rückblick auf Ereignisse des Jahres 2011, auf die Unruhen in den britischen Städten, die Occupy-Bewegung, den Arabischen Frühling oder das Attentat von Anders Breivik. Für Zizek ist es «Das Jahr der gefährlichen Träume», ein Jahr, in dem einerseits emanzipatorische, andererseits destruktive Träume zum Vorschein kamen.

Die abwesende Ursache

Man könnte kritisieren, dass dieses Vorhaben zu gross sei, um jedem Ereignis gerecht zu werden. Tatsächlich aber ist Zizeks Versuch, eine «kognitive Karte» unserer gegenwärtigen Situation zu entwerfen, höchst beachtenswert. Gerade weil sich die Situationen in Norwegen, Ägypten, Griechenland und den USA voneinander unterscheiden, stellt sich in einem globalen Blick auf das Jahr 2011 die Frage nach den gemeinsamen Bedingungen.

Die Bedingung, die all diesen Ereignissen zugrunde liegt, ist nach Zizek der Kapitalismus. Was aber heisst hier Kapitalismus – und wie zeichnet er sich dabei aus? Nach Zizek vor allem durch eine grosse Wandelbarkeit. Dieses Merkmal betont er angesichts der Versuche, den Kapitalismus zu humanisieren oder zu zähmen. Jeder wohlmeinende Eingriff führt nur zu einem Ausweichen «der Bestie». Gleichzeitig ist der Kapitalismus durch ein ständiges Ungleichgewicht gekennzeichnet. Gegen Marx argumentiert Zizek, dass der Kapitalismus niemals die Bedingungen für seine Überwindung herbeiführt, er «weicht in die Zukunft aus».

Die Möglichkeiten für eine Steuerung der wirtschaftlichen Strukturen sind deshalb eingeschränkt. Zudem greift das Kapital in die demokratischen Prozesse ein. Es wirkt als «abwesende Ursache»: als das Ding, das ständig verborgen bleibt und zugleich das Prinzip dieses Verbergens ist – wie im Traum, in dem der unbewusste Wunsch nie direkt erscheint und zugleich die treibende Kraft dieses Verbergens ist. Als Schweizer LeserIn mag man sich an das Bankgeheimnis erinnert fühlen: Das dahinter verborgene Geld wird ständig bestritten, aber es organisiert ein ganzes Heer von FürsprecherInnen und diskreten Angestellten, die es zu schützen versuchen.

Die heutige Form des Kapitalismus zeichnet sich nach Zizek durch das Aufkommen einer neuen Klasse aus, der «festangestellten Bourgeoisie». Diese Gruppe eher privilegierter, gut ausgebildeter Angestellter im Dienstleistungssektor charakterisiert Zizek durch ihre spezielle Entlöhnung. Sie eignet sich Mehrwert an, ihr Lohn wird aber häufig über pseudowissenschaftliche Evaluationen bemessen und hat selten eine ökonomische Rechtfertigung. So erklärt Zizek einen Teil der weltweiten Proteste: Gerade die unteren Ebenen der neuen Bourgeoisie sind die KandidatInnen für Lohn- und Rentenkürzungen in Krisenzeiten. Nach Zizek sind das keine proletarischen Proteste, sondern Proteste gegen die Bedrohung, auf den Status eines Proletariers reduziert zu werden.

Die Occupy-Bewegung geht nach Zizek über diese Besitzstandswahrung hinaus. Sie ist für ihn ein Zeichen, dass die westliche Linke zu ihrem Kernthema zurückfindet: «Nachdem sie den sogenannten ‹Klassenkampf-Essentialismus› für die Pluralität antirassistischer und feministischer Kämpfe aufgegeben hat, taucht nun eindeutig ‹Kapitalismus› als Begriff für das Problem auf.» Bezogen auf die Bewegung selbst stellt sich Zizek eine Reihe organisatorischer oder taktischer Fragen: Braucht eine Bewegung ein Programm? Wie kann sie sich gegen Vereinnahmung wehren?

Von grosser Klarheit und Schönheit

Einen emanzipatorischen Charakter spricht Slavoj Zizek natürlich auch dem Arabischen Frühling zu. Dabei ist ihm wichtig, dass der Westen dieses befreiende Potenzial auch in islamischen Bewegungen entdeckt. Eine vorschnelle Unterscheidung in «prowestliche» und «islamistische» Strömungen verhindere dies. Und er erinnert an ein Diktum Walter Benjamins, demzufolge die Ausbreitung des Faschismus immer Zeugnis von einer gescheiterten Revolution ablege. Falls der Arabische Frühling nicht zu tief greifenden Reformen führe, müsse man mit einer Ausbreitung radikaler Kräfte rechnen.

Zizek schliesst mit einer geschichtsphilosophischen Überlegung zur Bedeutung der besprochenen Ereignisse: Sind sie wirklich der Anfang von etwas Neuem? Oder bloss Marginalien einer Geschichte, die die kapitalistische Bestie weiter entfesselt? Dieses letzte Kapitel ist von grosser Klarheit und Schönheit, und es tröstet über einige Passagen hinweg, die man vorher überspringen musste. Im Kern lautet seine Botschaft: Die Bedeutung der Ereignisse lässt sich nicht objektiv bemessen. Ob sie der Beginn von etwas Neuem sind, lässt sich erst in der Zukunft entdecken. Wir können sie also nur als «Zeichen aus der Zukunft» lesen, im Hinblick auf einen utopischen, noch unbekannten Zustand.

Und wenn wir sie also solche verstehen – und entsprechend handeln –, könnten sie sich als solche erweisen.

Slavoj Zizek: Das Jahr der 
gefährlichen Träume. Aus dem Englischen von Karen Genschow. S. Fischer. Frankfurt am Main 2013. 220 Seiten. Fr. 29.90