Medientagebuch: Ignorierte Geiselnahme

Nr. 41 –

Die schweizerische USA-Berichterstattung.

Angenommen, ein US-Politiker fordert öffentlich, die Grenze zu Mexiko mit einem Elektrodraht gegen ImmigrantInnen abzusichern, und zwar mit der Begründung «Mit dem Vieh machen wir das auch so», und die Gegenseite lehnt den Vorschlag entschieden ab. Würden die Schweizer Medien auch in diesem Fall von einem «beidseitigen Mangel an Kompromissbereitschaft» und «zwei unversöhnlichen Positionen» berichten? Wie sähe hier ein allfälliges Entgegenkommen aus: ein Weidezaun mit reduzierter Spannung? – Eben!

Warum bloss vermuten viele Schweizer Medien in der Frage der Regierungsblockade in den USA die Wahrheit immer noch schön ordentlich in der Mitte, selbst wenn die eine Seite die praktische Vernunft längst hinter sich gelassen hat? PolitikerInnen wie der Tea-Party-Republikaner Steve King aus dem US-Bundesstaat Iowa, der die Elektrozäune gegen ImmigrantInnen plant, verlangen dieser Tage von ihrer Parteiführung theatralisch einen Blutschwur gegen «Obamacare». Dabei ist die Gesundheitsreform vom US-Kongress 2010 verabschiedet und 2012 vom obersten Gericht der USA als verfassungskonform beurteilt worden. Also eine beschlossene Sache, auch wenn das die Gegenseite nicht wahrhaben will.

Rund vierzigmal haben die RepublikanerInnen im US-Kongress versucht, das Gesundheitsgesetz doch noch zu verhindern. Das letzte Mal kurz vor dem aktuellen Shutdown, als sie ihre Zustimmung zu einem Notbudget von einer Aufschiebung von «Obamacare» abhängig machten. Der neuste Plan ist, die Blockade bis zur Debatte um die Erhöhung der Schuldenobergrenze Mitte Oktober durchzuziehen, um den Druck auf Präsident Barack Obama zu erhöhen. Die Finanzpolitik der USA wird zum blossen Pfand einer politischen Obsession der Rechten. Es geht nicht mehr um demokratisches Verhandeln, sondern um eine Geiselnahme des Service public. Das sollten die Schweizer Medien auch so darstellen. Zu oft wird die Zwängerei von Leuten wie Steve King als «Patt in Washington», als «Gezänk» oder als «politische Wirrungen» schöngeredet.

Man stelle sich vor, in der Schweiz wären in den neunziger Jahren bei der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung (vergleichbar mit «Obamacare») die Regierungsgeschäfte stillgelegt worden. Das braucht ein wenig Fantasie – selbst wenn die SVP gerade wieder mit markigen Worten gegen das Krankenkassenobligatorium ankämpft. Bei dem fiktiven schweizerischen Shutdown wäre also die Hälfte aller Staatsangestellten in unbezahlten Urlaub geschickt worden, die andere Hälfte hätte – zunächst ohne Bezahlung – weiterarbeiten müssen. Und die «Weltwoche» (in den USA ist es aktuell der TV-Sender Fox News) hätte frohlockt: «Geschieht den fetten Beamtenärschen ganz recht, die verdienen eh alle viel zu viel!» Zum Glück verhindert das regelbasierte schweizerische System, dass die Finanz- und Budgetpolitik dermassen in den Dienst von politischen Partikularinteressen gestellt werden kann.

In den USA sind Gesellschaft und Staat anfälliger für politische Erpressungsversuche von extremistischen Kräften, die den Legitimationsverlust von Staat und öffentlicher Hand nicht bloss in Kauf nehmen, sondern aktiv vorantreiben. Wie das geschieht und warum es so ist, wäre ein spannendes Thema auch für hiesige Medien. Spannender allemal als die scheinobjektiven Berichte über den neusten «Schlagabtausch» im US-Kongress. Die beteiligten Parteien kämpfen ja gar nicht in derselben Arena.

Lotta Suter ist WOZ-Mitbegründerin und WOZ-Autorin.