Krise im Westpazifik: Alle wollen den Frieden und provozieren den Krieg

Nr. 24 –

China ist daran, die Hegemonie über die dynamischste Wirtschaftsregion der Welt zu gewinnen. Die USA haben dies ermöglicht – und wollen es nun wieder verhindern. Eine explosive Situation.

Überlappende Gebietsansprüche: Im Westpazifik wird über die Weltordnung des 21. Jahrhunderts entschieden. (Grosse Ansicht der Karte) Karte: WOZ

Die Volksrepublik China liess im Mai im Westpazifik die Muskeln spielen wie selten zuvor. Die Kräfteverhältnisse werden durch ein Youtube-Video klar, das ein vietnamesischer Fischer aufgenommen hat: Ein grosses chinesisches Patrouillenboot jagt zwei viel kleineren vietnamesischen Fischerbooten hinterher, rammt eines davon, schiebt es vor sich her und versenkt es. Die zehn Fischer des versenkten Kutters konnten gerettet werden.

Hintergrund des Vorfalls ist eine Tiefwasser-Ölbohrplattform, die China seit Anfang Mai in der Nähe der Paracel-Inseln betreibt. Vietnam betrachtet diese Inselgruppe als sein Territorium, doch derzeit kreisen bis zu hundert chinesische Kriegsschiffe und Patrouillenboote um die riesige Ölbohrplattform. Damit nicht genug: Fast zur gleichen Zeit, einige Hundert Kilometer südlich, liess die chinesische Regierung ein Riff aufschütten, vermutlich um eine Flugpiste zu bauen. Das Riff ist Teil der Spratly-Inselgruppe, die die Philippinen grösstenteils zu ihrer Ausschliesslichen Wirtschaftszone zählen (vgl. «Provokanter Match» im Anschluss an diesen Text). Ebenfalls im Mai bedrohten chinesische Militärjets japanische Überwachungsflugzeuge. Das gefährliche Manöver spielte sich bei den von Japan verwalteten Senkaku-Inseln ab, die sowohl von der Volksrepublik als auch von Taiwan beansprucht werden (und die sie beide Diaoyu nennen). Dort hatte China letzten November eine Luftverteidigungszone ausgerufen, die sich mit den japanischen Hoheitsansprüchen überschneidet.

Entscheidende Hegemonie

Territorialkonflikte zwischen den Anrainerstaaten des Ostchinesischen und Südchinesischen Meers gibt es schon seit den fünfziger Jahren. Aber so dramatisch wie in den letzten sechs Monaten zeigten sie sich noch nie. Es geht um historisch-nationalistisch genährte Hegemonieansprüche, und ähnlich wie im aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine scheint sich eine unheilvolle Dynamik zu entwickeln – mit dem Unterschied, dass die Gemengelage im Westpazifik komplexer, globaler und explosiver ist. Einige BeobachterInnen, wie etwa der US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer, vergleichen sie mit der Situation in Europa vor hundert Jahren, am Vorabend des Ersten Weltkriegs.

Denn im Westpazifik geht es um weit mehr als ein Scharmützel um eine Reihe unbewohnter Inseln und Riffs, es geht um weit mehr als Fischgründe und Energiereserven. Auf dem Spiel steht die Kontrolle über Handelswege und militärisch-strategische Zugänge bis hin zum Indischen Ozean. Die Volksrepublik China steht hier den USA und deren Bündnispartnern Japan und Philippinen gegenüber, aber auch den wirtschaftlich aufstrebenden Staaten Indonesien, Malaysia und Vietnam – und zukünftig vielleicht gar Indien und Australien.

Der Westpazifik gilt als dynamischste Wirtschaftsregion der Welt. «Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts wird im asiatisch-pazifischen Raum entschieden», sagt denn auch Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, der die Sicherheitspolitik in der Region erforscht. «Die ganze Welt ist auf diese See- und Handelsverbindungen angewiesen. Das langfristige Ziel Chinas ist es, hier eine hegemoniale Rolle zu spielen und die Regeln zu diktieren – ohne dass die USA dazwischenfunken.»

Seine Chance sah China vor sechs Jahren kommen, als die Weltwirtschaftskrise die Schwächen der alten Hegemonialmacht USA offenbarte. Seither tritt Chinas Führung gegenüber den pazifischen Nachbarstaaten deutlich aggressiver auf – als würde sie ausloten wollen, auf wie viel Widerstand sie stösst. Die USA hatten bereits in den frühen neunziger Jahren begonnen, ihre Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum zu reduzieren. China hingegen hat in den letzten zehn Jahren besonders im maritimen Bereich stark aufgerüstet. US-Präsident Obama reagierte schliesslich 2012 mit dem «Pivot to Asia», dem Versuch, den Schwerpunkt der US-Aussenpolitik vom Nahen Osten und von Europa nach Asien zu verlagern, um dort den strategischen Bedeutungsverlust wettzumachen.

Einkreisungsängste

China nutzt also einerseits das Machtvakuum aus, das die USA vor zwanzig Jahren zuliessen. Gleichzeitig fühlt sich die Volksrepublik vom jüngsten US-Effort bedroht und will möglichst viele Fakten schaffen, solange das Vakuum wenigstens noch halbwegs besteht. Als Bedrohung sieht China insbesondere die Raketenabwehr der USA und ihrer Verbündeten – eine militärische Einkreisung, die von Japan über das Südchinesische Meer bis nach Indien reicht.

Auch wirtschaftlich fühlt sich die Volksrepublik zunehmend eingekreist: In die Verhandlungen zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP), einem umfassenden Freihandelsabkommen zwischen den USA und elf weiteren Staaten im Pazifikraum, ist Beijing bisher nicht einbezogen worden. Der in Britannien lehrende Rechtsprofessor Du Ming sieht es als Teil der US-Strategie, China nach Abschluss der Verhandlungen dazu zu drängen, der TPP ebenfalls beizutreten und dabei Regeln akzeptieren zu müssen, die gegen 
die staatskapitalistische Wirtschaftsstrategie Beijings gerichtet sind.

Kein Interesse an Krieg …

Das Beruhigende an der Situation im Westpazifik ist, dass aus rationalen Gründen keiner der beteiligten Staaten ein Interesse an einem Krieg hat. Zu stark wäre damit die weitere wirtschaftliche Entwicklung gefährdet. Das gilt gerade auch für den stärksten regionalen Player: «China ist noch nicht so weit, dass es einen grossen Krieg finanzieren könnte», sagt Michael Paul von der SWP. «Zudem braucht China unbedingt Frieden, um den Vertrag mit dem Volk, der seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung vor 25 Jahren gilt, einhalten zu können: ‹Schweigt, dafür könnt ihr reich werden!›»

Das Beunruhigende an der Situation ist allerdings, dass Interessenpolitik nicht alles ist. Während sich der wirtschaftliche Aufschwung in China und Japan verlangsamt, haben Nationalismus und Chauvinismus Hochkonjunktur. Japan ist gerade dabei, den «Pazifismusartikel» in der Verfassung umzuformulieren, um wieder militärisch offensiver agieren zu können. Und in Vietnam kam es nach dem Vorfall bei den Paracel-Inseln zu gewalttätigen Protesten gegen chinesische (faktisch meist taiwanesische) Fabriken, bei denen mindestens drei chinesische Arbeiter starben.

Wegen der abkühlenden Wirtschaft treten zudem in der ganzen Region die sozialen Gegensätze stärker zutage. Die Herrschenden müssen ihre Legitimation unter Beweis stellen und könnten versucht sein, das Volk mit nationalistischen Parolen und einer Kanonenbootpolitik bei der Stange zu halten.

Und so wäre man wieder bei der Analogie zu 1914. Wie vor hundert Jahren in Europa gibt es heute im westpazifischen Raum ein hohes Mass an Nationalismus, es gibt keine etablierten Kommunikationswege zwischen den konkurrierenden Staaten, geschweige denn gegenseitiges Vertrauen oder eine umfassende Sicherheitsarchitektur. Eine Situation, vor der die Krisenpräventionsorganisation International Crisis Group in einem Bericht zum Konflikt zwischen China und Japan um die Senkaku/Diaoyu-Inseln eindringlich warnt: «Die lang anhaltende Pattsituation beinhaltet ein grosses Unfallrisiko. Die Akteure an der Front verteidigen ausschliesslich eigene Herrschaftsansprüche. Viele Faktoren, etwa ein Unwetter, ein mechanischer Schaden oder ein übereifriges Individuum, könnten einen Zusammenstoss provozieren» – und der wiederum eine Kettenreaktion auslösen.

… und keine Lösungen

Die einzige realistische Entschärfung dieser explosiven Situation läge im Versuch, Kommunikationswege und letztlich politische Strukturen aufzubauen, die mehr Sicherheit garantieren. Ansätze gibt es. Etwa die Konferenz für Interaktion und vertrauensbildende Massnahmen in Asien, die jedoch klar von China dominiert wird und bei der Japan und die Philippinen als US-Verbündete nur Beobachterstatus haben. Doch obwohl die Staaten der Region das gemeinsame Interesse haben, durch Frieden ihr Wirtschaftswachstum am Laufen zu halten oder wieder anzukurbeln, finden sie zu keiner dauerhaften Lösung. «Alle Versuche sind gescheitert», sagt Michael Paul. «Wegen der historischen Verwerfungen gibt es kein Vertrauen zwischen den wichtigsten Staaten im asiatisch-pazifischen Raum. Es erscheint immer noch unmöglich, die unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnisse in einer gemeinsamen Organisation zu regeln.»

So wird es im Westpazifik wohl auch in Zukunft nur Kooperationen zwischen jeweils zwei oder drei Staaten geben. China wird weiterhin versuchen, seine hegemonialen Bestrebungen durchzusetzen. Die kleineren Staaten werden versuchen dagegenzuhalten. Und weil sie dabei auf die Hilfe einer Grossmacht angewiesen sind, wird sich die US-amerikanische Schwergewichtsverschiebung nach Asien fast von allein ergeben. Die USA und China werden ihre Hegemonieansprüche zurückfahren und besser kooperieren müssen. Wenn nicht, könnte die Weltordnung des 
21. Jahrhunderts im Chaos münden.

Südchinesisches Meer : Provokanter Match

Während sich die Regierung der Volksrepublik China weiterhin weigert, mit dem zuständigen Uno-Gerichtshof in Den Haag zu kooperieren, um die Territorialansprüche im Südchinesischen Meer zu klären, hat sie am Montag ein «Positionspapier» an Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon gesandt. Darin beschuldigt Beijing insbesondere Vietnam, «den Frieden und die Stabilität in der Region» zu gefährden. Hintergrund sind die Vorfälle um die chinesische Ölbohrplattform bei den umstrittenen Paracel-Inseln (vgl. Haupttext «Alle wollen den Frieden …»). Beijing behauptet, dass vietnamesische Boote «über 1400 Mal» chinesische Schiffe gerammt hätten.

Die Philippinen haben bereits im März am Uno-Gerichtshof eine Klage gegen China eingereicht. Vietnam hat letzte Woche den gleichen Schritt angekündigt. Die beiden Länder liessen es sich nicht nehmen, über Pfingsten die ChinesInnen zu provozieren, indem ihre Soldaten auf einer der umstrittenen Inseln ein gemeinsames Fussballspiel austrugen.

Die kleineren Länder bestehen in erster Linie auf den vom Seerechtsübereinkommen der Uno definierten Ausschliesslichen Wirtschaftszonen (AWZ). Demnach hat ein Staat im Meeresgebiet bis zu 200 Seemeilen (370,4 Kilometer) vor seiner Küstenlinie das alleinige Recht zur wirtschaftlichen Ausbeutung. China könnte sich insbesondere in seinem Anspruch auf die Paracel-Inseln ebenfalls auf das Seerechtsübereinkommen berufen, lehnt aber multilaterale Lösungen ab. Stattdessen argumentiert Beijing mit seiner «Neun-Strich-Linie» (vgl. rote gestrichelte Linie auf der Karte am Anfang des Haupttexts) – und somit mit einem angeblich historisch bedingten Anspruch auf praktisch das gesamte Südchinesische Meer.

Markus Spörndli