Harun Farocki (1944–2014): Genauer Blick auf den Stirnschweiss

Nr. 32 –

Vom Revoluzzer zum lakonischen Skeptiker der Bildwelten: Zum Tod des deutschen Autors und Filmemachers Harun Farocki.

Es ist eine schöne Gepflogenheit, in Nachrufen ein Leben auf einen Nenner zu bringen. Jeder weiss, dass dabei geglättet wird, was eigentlich rau war. In einem Fall wie dem von Harun Farocki lohnt es sich, einmal den umgekehrten Weg einzuschlagen: also nicht siebzig Jahre Leben und ein um die achtzig kurze und längere Stücke umfassendes Werk mit einem Etikett wie «Ethnograf des Alltags» oder «antikapitalistischer Filmessayist» zu versehen; nicht die gerade Linie zu ziehen von der Revoluzzerpose des Anfangs zur lakonischen Skepsis der letzten Arbeiten, sondern die Gegensätze, das Nichtfolgerichtige nachzuzeichnen.

Damals – im Kurzfilm «Nicht löschbares Feuer» von 1969 – drückte der 25-Jährige sich vor der Kamera eine Zigarette auf der eigenen Hand aus. So wollte er die Nichtdarstellbarkeit des Napalmkriegs in Vietnam demonstrieren. Man ist eigentlich froh, dass er diese Art der engagierten Selbstverstümmelung nicht fortgesetzt hat. Wo Farocki Nachfolger gefunden hat, etwa im spröden Stil der Berliner Schule, gerät seine typische Verbindung von analytischem Blick und langen Einstellungen heute nicht selten zur prätentiös-langatmigen Behauptung. Und die Filme von Christian Petzold, an denen er als Inspirator und Drehbuchautor mitwirkte – ihre letzte Zusammenarbeit, «Phoenix», feiert demnächst Premiere am Festival in Toronto –, sind von jener komplizenhaften Übereinkunft mit dem Publikum durchdrungen, die den eindringlichsten Arbeiten von Farocki völlig fremd ist.

Hauptsächlich Gesichter

Man nehme zum Beispiel seinen vielleicht bekanntesten Film aus den letzten Jahren, die fürs Fernsehen gedrehte Dokumentation «Nicht ohne Risiko» (2004). Darin sieht man, wie drei Vertreter einer neu gegründeten Firma mit drei Vertretern einer Risikokapitalgesellschaft verhandeln. Es geht um jene Sorte Geld, die mittlerweile ziemlich schlecht beleumundet ist. Aus Farockis Film lernt man immerhin so viel: Man bekommt es nicht bei Banken, aber mit etwas Glück bringt es viel ein, und zwar beiden Seiten.

Auf den ersten Blick sieht «Nicht ohne Risiko» wie die meisten Farocki-Filme vollkommen «kunstlos» aus. Eine Videokamera in einem Sitzungsraum filmt hauptsächlich Gesichter, nichts weiter. Sicher, da gibt es einen Rhythmus, eine grosse Sorgfalt in der Auswahl des Bildausschnitts, aber das sind alles Dinge, die man beim Betrachten kaum bemerkt. Man hört den Beteiligten zu und erfährt eine Menge an technischen Details über Gewinnaussichten, Sicherheiten und Beteiligungen – aber das wahrhaft Fesselnde an diesen Aufnahmen ist das professionelle Reden an sich.

Farockis grosse Kunst besteht nämlich darin, dass die von ihm Gefilmten offenbar vergessen, dass sie gefilmt werden. Das ermöglicht uns, «hautnah dabei zu sein», wie das früher im Sport so schön hiess. Wobei sich der Blick der Kamera nicht auf die privaten Momente der Verhandlungspartner konzentriert, sondern auf die «geschäftigen». Man sieht den leichten Stirnschweiss, den der Gedanke an eine niedrigere Gewinnaussicht auslösen kann. Man hört die mühsame Übersetzungsarbeit, die hier zwischen den Interessen des Kapitals und der Firmengründer geleistet werden muss. «Nicht ohne Risiko» ist ein Film, der wie gesagt nach «nichts» aussieht und dabei so spannend ist wie ein Krimi.

Eine Linie, eben doch

Farocki besass ein Faible für filmisch unspektakuläre Handlungen wie herumsitzen und reden. In «Die Schöpfer der Einkaufswelten» (2001) machte er uns zu ZeugInnen von hochkomplexen Diskussionen über die Sortierung des Brotregals in einem Supermarkt oder über die Aufstellung der Kleiderpuppen in einer Boutique. Das ist nicht nur deshalb interessant, weil man in ein paar Verkaufstricks eingeweiht wird, sondern auch, weil man etwas über die berufliche Ausdauer erfährt, mit der über solche Fragen gestritten wird.

So kann man der Versuchung, eine Linie zu ziehen, dann doch kaum widerstehen: von dieser Fähigkeit, sich als Filmer bis zur Selbstaufgabe unsichtbar zu machen, bis hin zu seinem Interesse am «anonymen Blick», an den Aufnahmen von Überwachungskameras oder an Computersimulationen zu Militärübungszwecken, mit denen er sich zuletzt in Werken wie «Erkennen und Verfolgen», «Gefängnisbilder» oder «Ernste Spiele» beschäftigte.

Und dann gab es jenseits dieser eigensinnigen Selbstlosigkeit wiederum ein gelebtes Leben, das doch fürs Anekdotische wie geschaffen schien: Geboren wurde Farocki 1944 während der Evakuierung im damaligen Sudetenland, sein Vater war ein Arzt aus Indien. In den frühen Sechzigern entfloh Farocki dem Elternhaus von Hamburg nach Westberlin, wo er später an der frisch gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie studierte – als Teil jenes legendären ersten Studienjahrgangs, dem so unterschiedliche Figuren wie Holger Meins und Wolfgang Petersen angehörten. Wo andere einen solch reichen biografischen Hintergrund ohne Unterlass als Sujet ausgebeutet hätten, beschäftigte sich Farocki immer weiter mit fremden Blicken und dem Blick auf Fremdes. Eine Linie, eben doch.

Eine Farocki-DVD-Box mit zwanzig Filmen aus den Jahren 1967 bis 2005 ist im Handel erhältlich (Absolut-Medien, ca. 86 Franken).