Jazz: Die magische Zahl

Nr. 38 –

Einst Fussballprofi in spe, dann Bauer und Buchhändler, heute Jazzmusiker: Omri Ziegele hat vielerlei Häutungen durchlebt. Als Konstante erweist sich seine Band Billiger Bauer, die mit einem neuen Album ihr zwanzigjähriges Bestehen feiert.

Omri Ziegele ist Schweizer Jazztopetage: einer der herausragenden Saxofonisten des Landes. Der Zürcher hat mit vielen wichtigen Namen der hiesigen Jazzszene gespielt, ob mit der Pianistin Irène Schweizer, dem südafrikanischen Schlagzeuger Makaya Ntshoko (aus Basel) oder den Saxofonisten Hans Koch und Urs Leimgruber. Dazu lässt Ziegele immer wieder mit eigenen Bandprojekten aufhorchen. Seit zwei Jahrzehnten ist die Formation Billiger Bauer seine kreative Plattform, die sich zu einer All-Star-Band der Zürcher Improvisationsszene gemausert hat.

«Wie ein Stromanschlag»

Am Anfang stand eine existenzielle Kränkung, denn eigentlich wollte Omri Ziegele Fussballprofi werden. Als Teenager zog ihn das Spiel derart in den Bann, dass er jede freie Minute auf dem Fussballplatz verbrachte. Die Schule lief nebenher. «Ich gehörte zu den besten Jugendspielern bei den Grasshoppers, bis ein Trainer mich nicht leiden konnte und auf die Ersatzbank verbannte», erinnert sich Ziegele. «Ich empfand das als so furchtbare Demütigung, dass ich mich vollkommen vom Fussball abwandte.»

Im Saxofon fand Ziegele einen Ersatz, wobei es nicht einmal sein eigenes Instrument war, auf dem er anfangs wie besessen übte: Ein Bekannter hatte eine uralte italienische Tröte auf dem Dachboden gefunden und Ziegele zur Verfügung gestellt. «Ich habe da reingeblasen, und es passierte eine Explosion in mir – eine Offenbarung», beschreibt er die erste Begegnung mit dem Instrument. «Es wurde zum neuen Zentrum meiner Aktivitäten. Bereits nach drei Wochen stand ich auf der Bühne und habe Herbie Hancocks ‹Watermelon Man› geblasen. Es hat mich wie ein Stromschlag getroffen.»

Ziegele trat mit Coverbands auf, die bei Schulfesten für Partylaune sorgten. Er sah sich musikalisch in London um und wagte dann den Sprung in die USA, wo er am berühmten Berklee College of Music in Boston studierte. Die Erwartung war immens – die Enttäuschung umso grösser. «Eingefahrene Lehrer, langweiliger Unterricht und 2000 Saxofonisten, die alle dasselbe übten», fasst Ziegele seine Erfahrungen zusammen.

Zurück in Zürich und euphorisiert von der Jugendrevolte Anfang der achtziger Jahre, gründete er mit anderen den alternativen Theaterzirkus Federlos. Doch Selbstzweifel trieben ihn um. Ziegele vollzog einen radikalen Bruch: Er klinkte sich vollständig aus der Szene aus und hörte sogar auf, Musik zu machen. Er spielte mit dem Gedanken, Literatur zu studieren, absolvierte eine Buchhändlerlehre, arbeitete im Krankenhaus und als Bauer. «Ich habe sogar eine Alp gemacht», erinnert er sich nicht ohne Stolz. Es war eine Zeit der Reflexion und der Suche. Vier Jahre dauerte die Auszeit, dann kehrte die Musik langsam wieder in sein Leben zurück. Der Saxofonist hob die Gruppe Noisy Minority aus der Taufe. Daneben schwebte ihm ein Bandprojekt vor, um das spontane Spiel in einem grösseren Kontext auszuloten.

Gedichte als Katapult

Für das Experiment trommelte Ziegele im Februar 1996 seine Bekannten aus der Zürcher Jazzszene zusammen. Eine Besetzung von neun MusikerInnen erwies sich als «magische Zahl». Die Gruppe Billiger Bauer war geboren. Stand anfangs noch die Jazztradition im Zentrum ihres Schaffens – die Gruppe wurde gelegentlich mit Charles Mingus und seinem Jazz Workshop verglichen –, rückten mit der Zeit abstraktere Formen in den Vordergrund, wie sie in der avantgardistischen E-Musik in Gebrauch sind. Nach zwei Alben ist jetzt eine neue CD von Billiger Bauer erschienen, die Einflüsse von Igor Strawinsky, Hanns Eisler und Kurt Weill aufweist und diese mit freien Improvisationen und treibenden Grooves in wilder Manier vermischt. «15 Herbstlieder», von Ziegele komponiert, sind zu einem Zyklus zusammengefasst, der den Titel «So viel schon hin» trägt. Der Bandleader hat für jedes Lied ein kurzes Gedicht geschrieben, das als «Katapult für die Improvisation» fungiert.

Abweichend von der normalerweise gross angelegten «kollektiven Architektur», peilte Ziegele für dieses Sonderprojekt kurze Stücke mit Mikroimprovisationen an. Reduktion und Verknappung lautete die Devise. Davon erhofft sich Omrie Ziegele Anstösse für die zukünftige Arbeit. «Jeder neue Impuls beeinflusst unser weiteres Spiel», stellt der Bandleader fest. «Deshalb ist es auch wichtig, dass junge Musiker in die Band kommen, damit wir nicht stillstehen, sondern uns weiterentwickeln.»

Konzerte in: Altbüron, Bau 4, 18. September 2015; Zürich, Miller’s Studio, 19. und 20. September 2015; Luzern, Jazzkantine, 23. September 2015; 
Küsnacht, Pfarreizentrum St. Georg, 27. September 2015; Aarau, Kongresszentrum, 18. Oktober 2015.

Omri Ziegele und Billiger Bauer: 15 Herbstlieder. 
So viel schon hin. Intakt Records