Kultour

Nr. 38 –

Filmkonzert

Ödipus mit Free Jazz

Wer sich in der griechischen Mythologie auskennt, dürfte sich wundern. Denn in «Oedipus», dem Stummfilm, der am Samstag in Poschiavo uraufgeführt wird, ist nicht Ödipus der Mörder, sondern sein Vater, Laios. Und die Mutter, Iokaste, ist hier dessen Komplizin. Ödipus selbst hingegen verkörpert die Kreativität und so das Gegenstück zu der von den Eltern ausgeübten kruden Gewalt.

Vollends verwirrend wird der Film durch die Tatsache, dass fast alle Rollen vom japanischen Butohtänzer Yoshihiro Shimomura verkörpert werden. Abgesehen von Ödipus als Kleinkind, der von Shimomuras Sohn gespielt wird.

Ihr Film verweise «auf die beobachtbare Vernichtung der mannbaren (zeugungsfähigen, Anm. d. Red.) Jugend in den heutigen Kriegen und Genoziden», schreibt Cornelia «Ka» Müller, die Regisseurin. Gedreht wurde der Film, der viel mit Doppelbelichtungen und anderen Tricks arbeitet, «vor Wasserfällen, in Steinwüsten, zwischen Alpenrosen, in Lärchenhainen und Gletschermühlen, in einem umgestürzten Baum und in einem Bergbach».

Die umtriebige Cornelia Müller hat lange das nicht mehr existente Free-Jazz-Festival «Uncool» in Poschiavo organisiert. Dort war regelmässig auch der kosmologische Free Jazz des legendären Sun Ra Arkestra zu erleben, das seit zwanzig Jahren vom mittlerweile 91-jährigen Saxofonisten Marshall Allen geleitet wird. Nun hat Müller – und das ist ein guter Grund, die lange, aber faszinierende Reise über den Berninapass zu machen – Marshall Allen dafür gewonnen, ihre poetische Stummfilmmeditation frei improvisierend zu begleiten. Zum Magic Science Quartet gehört neben Allen mit Altsaxofon, Casio, Flöte und Kora, dem Schlagzeuger Avreeyl Ra und Müller selbst am Piano eine weitere Legende: der Bassist Henry Grimes, der nur selten in Europa zu hören ist. Grimes hatte Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre mit diversen Jazzgrössen gespielt, galt dann gegen Ende der Sechziger als verschollen und wurde bald für tot erklärt, bevor er 2003 wiederentdeckt wurde. All die Jahre über hatte er in Armut gelebt und Tausende Gedichte verfasst, einen Bass besass er da schon lange nicht mehr. Heute ist er ein regelmässiger Partner von Allen.

Bevor der Film gezeigt wird, gibt Yoshihiro Shimomura zudem eine Solo-Tanzperformance, die ebenfalls vom Magic Science Quartet untermalt wird.

Armin Büttner

«Oedipus» in: Poschiavo Casa Torre, 
Sa, 19. September 2015, 20.30 Uhr.

Film

Die Ausbeutung stoppen

Wie soll das alles weitergehen, wenn es so weitergeht? Und was wären Alternativen, damit es anders geht? Diese Fragen werfen die Dokumentarfilme auf, die am Festival «Filme für die Erde» gezeigt werden. Wie sollen zehn Milliarden Menschen in Zukunft ernährt werden? Mit dieser Herausforderung beschäftigt sich Valentin Thurn, der 2011 den Film «Taste the Waste» realisiert hat, in seinem neuen Dokumentarfilm «10 Milliarden». Wie verändert der Klimawandel konkret unsere Lebensbedingungen? Dies zeigt der Schweizer Filmemacher Matthias von Gunten in «ThuleTuvalu» an zwei ganz anderen Enden des Globus: Da sind auf der einen Seite Jäger in Thule in Nordgrönland, die mit den Problemen des schmelzenden Eises zu kämpfen haben. Auf der anderen Seite des Globus, im südpazifischen Inselstaat, steigt das Wasser stetig an, die Insel droht zu verschwinden.

Welches sind die Folgen der Billigmode-Industrie? Darum geht es in Andrew Morgans «The True Cost». Alle möchten möglichst wenig Geld für ihre Kleider ausgeben und verschliessen die Augen vor den furchtbaren Produktionsbedingungen. «Das System der Produktion von Billigmode ist unmenschlich. Warum können wir das nicht weiterentwickeln?», fragt Regisseur Morgan in einem Interview mit der FAZ. Alternative Ideen stehen im Film «Inhabit» von Costa Boutsikaris im Zentrum: Hier geht es um die Permakultur, ein landwirtschaftliches Konzept. Zu sehen sind all diese Filme am selben Tag in fünfzehn verschiedenen Schweizer Städten.

Festival «Filme für die Erde» in: Baden, Basel, 
Bern, Chur, Horgen, Interlaken (nur Schulvorführungen), Kreuzlingen, Luzern, Solothurn, Schaffhausen, St. Gallen, Thun, Winterthur, Zug und Zürich, Fr, 18. September 2015. 
www.filmefuerdieerde.org

Silvia Süess

Theater

Ein Ehrenmord – oder nicht?

Ein sonniger Tag, vier junge Menschen fahren in die nahe gelegene Stadt zum Shoppen, Rumhängen, Feiern. Ein harmloser Ausflug also. Aber das Glück, das Unbeschwerte kippt nur allzu leicht. Eine Auseinandersetzung, zuerst verbal, dann körperlich, und als letzte Stufe der Eskalation kommt ein Messer ins Spiel. Und, kaum mehr erstaunlich, eine Tote.

Es ist eine wahre Geschichte, die den Dramatiker Lutz Hübner inspirierte. Eine Jugendliche wird auf einer deutschen Autobahnraststätte von zwei jungen Männern erstochen, ihre Freundin schwer verletzt. Der Grund: Angst vor einer Schwangerschaft der jungen Frau. Diese wiederum hätte die Ehre des türkischstämmigen Manns gefährdet, ihn vor der Familie gedemütigt. Ein Ehrenmord – oder ein Mord aus anderen Motiven? Wegen jugendlicher Impulsivität, verletzter Liebe, einer zu selbstbewussten jungen Frau? Als Folge alltäglicher Gewalt, Frustration und Diskriminierung? In «Ehrensache» wird den Hintergründen der Tat nachgespürt, die komplexer sind, als es auf den ersten Blick erscheint. Die Neuinszenierung der freien Theatergruppe Katerland/Bravebühne aus Winterthur will eine Debatte unter Jugendlichen über die Fragilität menschlicher Begegnungen und die Macht der Gefühle anregen.

«Ehrensache» in: Winterthur Theater am Gleis, 
Sa/So, 19./20. September 2015, und Mi/Do, 23./24. September 2015. www.theater-am-gleis.ch

Rahel Locher

Festival

Afrika–Europa

«Wir befördern Sie stilvoll für neunzig Minuten ins Jenseits» – dies versprechen Brigitta Paulina Javurek und Roger Nydegger, die MacherInnen des Stücks «À tout jamais / Auf ewig». Darin begegnen sich fünf Männer: Drei kommen aus Westafrika, zwei aus der Schweiz – und alle sind sie erstaunt über ihr Weiterleben im Jenseits. In ihren Gesprächen dreht sich denn auch alles um Leben und Tod, um Religion und Revolution, um Schwarz und Weiss – und immer wieder wird getanzt.

«À tout jamais / Auf ewig» feiert seine Premiere im Rahmen des Kulturfestivals «Pas de Problème», das 2013 von Javurek, Nydegger und Genny Russo gegründet wurde und dieses Jahr zum zweiten Mal stattfindet. «Wir pflegen Freundschaften, keine Feindbilder» lautet das Motto des Festivals, das mit Vorurteilen und Stereotypen über Afrika aufräumen will, die in der Schweiz noch immer verbreitet sind. Das Festival sucht nach Unterschieden, Gemeinsamkeiten sowie dem Verbindenden zwischen AfrikanerInnen und SchweizerInnen. Zu sehen sind verschiedene Theaterstücke, die sich mit der Thematik Afrika–Europa auseinandersetzen. So «Nach Lampedusa – Wanderfantasien» von Matterhorn-Produktionen oder «El cimarrón» unter der Regie von Wolfgang Mehring, das die Geschichte des 1860 auf Kuba geborenen Sklaven Esteban Montejo erzählt, dem die Flucht gelingt. Neben den Theaterstücken gibt es auch Konzerte, Clubabende sowie kulturelle und kulinarische Beiträge aus der afrikanischen Diaspora.

Afroschweizerisches Kulturfestival in: Zürich Kulturmarkt Zürich Wiedikon, Mi, 23. September 2015, bis Sa, 3. Oktober 2015. www.pasdeprobleme.org

Silvia Süess

Ausstellung

Chronistin des 20. Jahrhunderts

Sie war eine fleissige Schreiberin: Mit 22 Jahren begann Thea Sternheim (1883–1971) Tagebuch zu schreiben. Bis zu ihrem Tod füllte die Autorin, Kunstsammlerin und Fotografin 10 000 Seiten mit Reflexionen aus einer ereignisreichen Zeit, die sie an unterschiedliche Orte Westeuropas führte. Die Weltpolitik spiegelt sich in ihren Einträgen ebenso wie ihre persönliche Erfahrungen im Kampf gegen gesellschaftliche Konventionen. Die mit feinem Gespür verfassten Einträge lassen schon früh eine Ahnung auf die bevorstehenden Weltkriege durchschimmern. Doch auch Begegnungen mit Personen wie der Schriftstellerin Annette Kolb oder dem Maler Pablo Picasso finden Eingang in ihr Tagebuch.

Ihren Lebensabend verbrachte die in Deutschland geborene Sternheim bei ihrer ältesten Tochter in Basel – die beiden anderen Kinder aus zweiter Ehe mit dem Dramatiker Carl Sternheim waren vor ihr gestorben. In der Basler Universitätsbibliothek sind nun die Fotografien und Tagebücher Sternheims zu sehen, die sich zu einem Panorama der Geschichte Westeuropas fügen.

«Keiner wage, mir zu sagen: Du sollst!» in: Basel Universitätsbibliothek, Fr, 18. September 2015, 
18 Uhr, Vernissage; Ausstellung bis 28. November 2015. www.ub.unibas.ch

Rahel Locher