Neues aus der Wissenschaft: Es gibt keine Kreativität

Nr. 38 –

Cartoonist Ruedi Widmer äussert sich für einmal als führender Experte im Bereich der Musikvermessung.

Ein Schiff ist 120 Meter lang und 24 Meter breit. Wie heisst der Kapitän? Diese alte Scherzfrage bringt das ganze Dilemma auf den Punkt. Die Welt besteht nicht nur aus Zahlen.

Ganz wichtige Faktoren sind nicht mit dem Zahlensystem erfassbar und gehen deswegen oft vergessen, sodass TechnokratInnen wiederum BeraterInnen einsetzen, die sie dauernd auf das Problem aufmerksam machen müssen. Diese BeraterInnen kosten enorm viel und sind ideal in Zeiten guten Geschäftsgangs oder voller Staatskassen, weil man mit ihnen lange Seminare machen kann oder auch Apéros. Doch wenn es hart auf hart kommt, setzen sich die TechnokratInnen durch und sparen die BeraterInnen wieder weg.

Der in letzter Zeit in den Medien kritisierte Messwahn geschieht deshalb, weil wir ZahlenakrobatInnen sicher sind, irgendwann alles entschlüsseln zu können, auch von den ÖkonomInnen «weiche Faktoren» genannte Werte wie Melancholie, Freude, Angst, Sehnsucht, Trauer, die wir heute noch zur Welt der Gefühle und der Irrationalität zählen.

Der ee-Wert von «London Calling»

Im Bereich Musikvermessung sind wir, auch dank meiner Arbeit, schon relativ weit ins Dunkel der Irrationalität vorgestossen und haben bemerkt, wie rational manches wird, wenn man sich irrational damit beschäftigt.

Ein Beispiel: Das Stück «London Calling» von The Clash ist 3 Minuten und 46 Sekunden lang. Die Geschwindigkeit beträgt 136 bpm (Beats per Minute). Die Distanz vom tiefsten zum höchsten Ton beträgt 2,7 Meter. Die Tiefe beträgt 2,6 Meter. Das Stück ist also beinahe quadratisch, wenn man es von der Seite betrachtet. Die emotionale Empfindung (ee) beim Hören beträgt bei den ersten Takten 23,4 ee, steigert sich beim Einsatz des Sängers auf 44,2 ee. 0,4 Sekunden später erfolgt eine geschlechtsübergreifende Hormonausschüttung von 4,6 Mikrogramm. Bei der hohen Stelle, wenn der Sänger singt: «… and I live by the river», beträgt die ee gute 6,1. Der Wert ist okay, kommt aber nie an die Eröffnungssequenz von «The Final Countdown» von Europe heran, bei der die Empfindung auf unglaubliche 16,1 steigt, selbst bei Personen, die die Melodie nicht mögen. Das Nichtmögen ist ein zweiter, der ee zuwiderlaufender Faktor, ein individueller Messwert, den man in der Musikspektralvermessung Dämpffaktor (df) nennt. Wenn Sie also etwas nicht mehr hören können, erhöht sich nur der individuelle Dämpffaktor; der ee-Wert ist bei allen Menschen der gleiche.

Kommen wir zurück zu «London Calling»: Der Bass setzt aus, der Sänger schreit: «Ohoho», das Schlagzeug spielt mehrere Wirbel. Dann setzt der Groove wieder ein. Jetzt empfindet das menschliche Gehirn einen kurzzeitigen ee von 6,4. Die Tiefe erhöht sich auf 3,5 Meter. Der Text geht nun zum Finale «The ice age is coming».

Jetzt macht der Intellekt: Aha, und hält den ee-Wert konstant auf 4,9 bis zum Schluss. Durch den gedanklichen Abschluss bildet das Stück nun zunehmend eine Ausbuchtung und sieht von der Seite wie ein U aus.

Zur Vollvermessung der Welt

Geht die Musiktiefe über 6 Meter hinaus, was bei vieler als traurig empfundener Musik möglich ist, wird es in kleineren Wohnungen oft eng, und die Musik ragt auf die Strasse hinaus. Diese Überdehnung kann sogar den Funkverkehr beispielsweise im Flugwesen stören. In der Nähe von Flughäfen ist es deshalb ratsam, nur Musik der äussersten Spektren (zum Beispiel Schlagermusik) zu hören.

Füttert man nun einen Computer nur mit den Daten der Empfindungen Ihres Körpers, ist er fähig, «London Calling» zu rekonstruieren. Das Resultat ist etwas unscharf, gewisse Zwischenräume sind gefüllt, die Spitzen manchmal etwas weniger ausgeprägt, aber es ist als «London Calling» zu erkennen.

So ist es also möglich, Ihre gemessenen Körperdaten leicht zu variieren und damit automatisch neue, bisher nicht bekannte Musikstücke von The Clash zu generieren. Bei Abweichungen von über 1/20 der Ursprungswerte beginnt die Musik dann aber eher, wie die der Stranglers zu klingen. Stellt man noch mehr Parameter anders ein, gelangt man via PiL. und Joy Division irgendwann aus dem Postpunkbereich und erreicht das benachbarte Spektrum des New Wave. Dreht man weiter, streift man weitere Musikstile.

Die Entdeckung dieser Musikspektren, die ich zusammen mit meinem Kollegen Robert F. Curva von der Universität Miami im Jahr 2003 machen durfte, ist eine wichtige Voraussetzung für die Vollvermessung der Welt. Robert und ich staunten nicht schlecht, als wir feststellten, dass Musik nichts Kreatives, sondern nur etwas zufällig Entdecktes ist. Etwas, das bereits seit dem Urknall da ist, aber im Unwissen schlummert. Wie wir beweisen konnten, gibt es also unendlich viele Clash-Stücke, von denen die Band selber nur einige Dutzend entdecken konnte, weil die Bandmitglieder, ausgehend von ihren Körperwerten, zufällig darauf stiessen, als sie auf ihren Gitarren herumspielten.

Ruedi Widmer ist Professor für Quatschenmechanik und wollte schon 
lange mal einen wissenschaftlich fundierten Artikel schreiben.