Energiestädte: Erstfeld hat den Atomausstieg längst geschafft

Nr. 50 –

Verschiedene Gemeinden sind spitze, wenn es um den Atomausstieg geht. Eine von ihnen ist Erstfeld im Kanton Uri. Die Gemeinde und ihr kommunales Elektrizitätswerk setzen lokal um, was die Bürgerlichen national auf die lange Bank schieben.

Bevor das Wasser aus den Bergen als Trinkwasser bereitgestellt wird, dient es der Stromproduktion: Turbine in den Erstfelder Gemeindewerken.

Die Wut der Vandalen war gross. Über mehrere Wochen hinweg zerstörten sie im Januar 2015 mit brachialer Gewalt vor allem Tempo-30-Tafeln. Offensichtlich hatten sie Mühe, das auf Jahresbeginn im halben Dorf Erstfeld eingeführte neue Verkehrsregime zu akzeptieren.

Schon die Gemeindeversammlung im letzten Jahr über die Einführung von Tempo 30 war turbulent gewesen. «Vor allem die Landwirtschaft und das Gewerbe votierten dagegen», sagt Pia Tresch-Walker, Vizegemeindepräsidentin von Erstfeld. «Man fand, das koste doch alles nur und sei zudem überflüssig.» Doch die GemeindebürgerInnen votierten am Ende äusserst knapp, mit nur fünf Stimmen Differenz, für Tempo 30. «Inzwischen ist die Verkehrsberuhigung breit akzeptiert», sagt Tresch-Walker, «besonders auch, weil sie mehr Sicherheit für SchülerInnen bringt.»

Von den «Besten der Besten»

Der Sieg des übrigens mehrheitlich bürgerlichen Gemeinderats trägt dazu bei, dass Erstfeld im Spitzenfeld der Schweizer Energiestädte mitspielt. Schon 2001 erhielt die Gemeinde das Label Energiestadt für eine nachhaltige kommunale Energiepolitik (vgl. «Das Energiestadt-Label» im Anschluss an diesen Text). Über die Jahre verbesserte sich Erstfeld immer weiter, sodass es 2011 für ein Upgrade auf das europäische Label Energiestadt Gold reichte; dieses wird an «die Besten der besten» Energiestädte vergeben.

Bei einem sogenannten Reaudit im Oktober ist Erstfeld – hinter Zürich und Lausanne – vom 15. auf den 3. Rang der Schweizer Goldstädte vorgerückt. «Das können wir nur erreichen, weil die ErstfelderInnen unsere Politik mehrheitlich mittragen», sagt Pia Tresch-Walker. Die Vizepräsidentin des Gemeinderats und ehemalige SP-Landrätin (Kantonsrätin), heute parteilos, ist eine bekannte Urner Politgrösse und Geschäftsführerin von Pro Natura Uri.

Das ehemalige Eisenbahnerdorf Erstfeld südlich von Altdorf mit seinen heute 3900 EinwohnerInnen hat schon bessere Zeiten gesehen. Seit die SBB ab den siebziger Jahren den Rangierbetrieb der Züge für die sogenannte Gotthardbergstrecke ins Mittelland verlegten, gingen rund 700 Bahnstellen verloren. Doch gleichzeitig hat Erstfeld auch Glück. Im meistens nebelfreien Tal kann das Dorf neben Bergbächen auch die Sonne für die Stromerzeugung nutzen. Es sind keine gigantischen Anlagen, sondern kleinere Kraftwerke, die in Erstfeld mehr Energie produzieren, als die Gemeinde selber braucht; im Sommer werden die Überschüsse verkauft, im Winter kauft man Strom vom Elektrizitätswerk Davos hinzu.

Eines der kleinen Kraftwerke steht oberhalb von Erstfeld. Walter Tresch, Bereichsleiter für erneuerbare Energien in den Gemeindewerken, zeigt auf eine kleine Turbine mit einem Guckglas, hinter dem kristallklares Wasser herumwirbelt. «Das ist Trinkwasser, das wir am Berg fassen», sagt der Elektroingenieur. «Bevor wir es an die Haushaltungen liefern, nutzen wir es für die Stromproduktion. Das ist unser Bijou.»

Vom Trinkwasserkraftwerk aus überblickt man die Dächer des Dorfs. Walter Tresch zeigt auf die vielen Sonnenkollektoren für die Warmwasser- und die Stromproduktion. «Wir haben die Fläche zur Solarenergienutzung in den letzten sechs Jahren verzehnfacht», sagt Tresch, der selber an diesen Anlagen mitgebaut hat. «Wir wollen möglichst viel aus der Sonne herausholen, darum pachten wir bei Gelegenheit auch Dachflächen, um weitere Solarstromanlagen zu installieren.»

Das Besondere an Erstfeld ist: Die Gemeindewerke setzen auf eine ökologische Energiegewinnung. Was das bedeutet, sieht man gut beim Kraftwerk Ripshausen etwas ausserhalb des Dorfs. Hier wird ein Teil eines Bachs auf zwei Turbinen geleitet, ein anderer Teil bleibt als Restwasser in einem natürlichen Bachbett den Fischen erhalten. Das zahlt sich aus. Für die umweltschonende Produktion haben die Gemeindewerke die Ökostromzertifizierung «Naturemade Star» erhalten, ein Gütesiegel, das sie auf dem Strommarkt verwerten können.

Die hundertprozentige Ökostromproduktion ist auch gut fürs Image. Mitte November erreichten die Gemeindewerke einen Podestplatz, der in der Fachwelt für Aufsehen sorgte: In der Gruppe der kleineren und mittleren Energieversorgungsunternehmen belegen sie beim Engagement für den Atomausstieg den ersten Platz. Jedenfalls nach dem Benchmarking von Energie Schweiz. «Wir haben zum ersten Mal an dieser Ausmarchung teilgenommen. Dass wir bei den kleineren Unternehmen an der Spitze landen, haben wir nicht erwartet», sagt Peter Dittli, Unternehmensleiter der Gemeindewerke.

100 Franken zur Kaffeemaschine

Die Gemeindewerke haben diesen Spitzenplatz auch dank ihres weitreichenden Förderprogramms erreicht, das sie mit Erträgen aus dem Zertifikateverkauf finanzieren. Seit 2009 zahlten sie rund 720 000 Franken an Sonnenkollektoren, Fotovoltaikanlagen, Wärmepumpen, Erdsonden – etwa beim Ersatz von Elektroheizungen oder für den Einbau von Holz- anstelle von Ölheizungen. Die Zahl der Öl- und Elektroheizungen sinkt stetig.

Zugleich beliefert das kommunale Unternehmen Schulhäuser und ein Pfarreizentrum mit Heizwärme. Brennstoff sind hier Holzschnitzel. «Die Gemeindewerke verbrennen nur so viel Holz, wie auf dem Erstfelder Boden anfällt. Wegen der Nachhaltigkeit wird kein Holz von auswärts dazugekauft», sagt Claudia Luethi aus Luzern, die für die Energiestadt Erstfeld als Beraterin tätig ist. «Das ist ein eher demütiges als hochmütiges Vorgehen.»

Vom Förderprogramm profitieren nicht nur HausbesitzerInnen, sondern auch MieterInnen. Im Verkaufsladen der Gemeindewerke sind Haushaltsgeräte ausgestellt, für die ErstfelderInnen einen Förderrabatt bekommen. 100 Franken gibt es beim Kauf einer Kaffeemaschine mit Abschaltautomatik, 200 Franken beim energieeffizientesten Geschirrspüler und 300 Franken beim effizientesten Tumbler; seit 2009 haben die Erstfelder Gemeindewerke dafür 150 000 Franken ausgeschüttet. Das Förderprogramm von Erstfeld gehört zu den besten der Schweiz, zumindest bis jetzt.

In Zukunft werden die Gemeindewerke nämlich nicht mehr so grosszügig Förderbeiträge sprechen können. Der Grund ist: Beim Handel mit Ökostromzertifikaten verliert Erstfeld Anfang 2016 einen wichtigen Partner, das Elektrizitätswerk Zürich (EWZ). Bisher kaufte das EWZ einen grossen Teil der Zertifikate. Inzwischen hat es in Graubünden eigene Naturemade-zertifizierte Wasserkraftwerke geschaffen und braucht die Erstfelder nicht mehr. «Es wird nun aufwendiger werden, unsere Zertifikate abzusetzen», sagt Peter Dittli. Zwar sei die Nachfrage nach solchen Zertifikaten unverändert hoch, doch wegen des stetig wachsenden Angebots sänken die Preise massiv. «Uns wird weniger Geld zur Verfügung stehen, doch wir sind entschlossen, weiterhin ein starkes Förderprogramm anzubieten.»

Und noch etwas beschäftigt den Unternehmensleiter. «Mit unserer Förderpolitik helfen wir den Kunden, weniger Energie zu verbrauchen. Wir schmälern also aktiv unseren Umsatz. Wir verhalten uns wie ein Metzger, der seiner Kundschaft Vegiplätzli anpreist.» Unternehmerisch betrachtet sei dies ein Spagat zwischen Ökologie und Ökonomie. Die Herausforderung liege darin, neue Absatzkanäle und neue Ökostromprodukte zu entwickeln. So wollen die Gemeindewerke ab 2016 ein Angebot mit Solar- und Ökostrom kreieren.

In Erstfeld ist der Atomausstieg, der national immer mehr auf die lange Bank geschoben wird, kein grosses Thema: Die Gemeinde ist seit Jahren atomstromfrei. Und auch die Strommarktliberalisierung für Privatkunden, die ab 2018 gelten soll, bringt Unternehmensleiter Dittli nicht ins Schwitzen. «Es gibt vielleicht ein paar ‹Frustwechsler›», meint er. «Aber viel entscheidender ist, dass sich die Erstfelder mit dem Gemeindewerk identifizieren. Alle sind Miteigentümer des Gemeindewerks, wir sind nah bei den Leuten. Die Bürger können sogar an der Gemeindeversammlung den Verwaltungsrat wählen.»

Energie als Schulfach

Neben den Gemeindewerken engagiert sich auch die Politik für die Energiestadt. Zur umstrittenen Einführung von Tempo 30 und einer aktiven Parkplatzbewirtschaftung kommt der Kampf für einen attraktiven öffentlichen Verkehr und der Ausbau des Fuss- und Radwegnetzes. Das Energiesparen beschäftigt die ganze Bevölkerung. Schon die Kleinen sind involviert, Energieunterricht ist in Erstfeld ein reguläres Schulfach. Und einmal pro Jahr steigt ein grosses Energiestadt-Fest mit Wettbewerb, Barbetrieb und Risottoessen für die Bevölkerung.

Die Gemeinde kitzelt den Stolz der BürgerInnen heraus. Für den schonenden Umgang mit der Umwelt und mit den Ressourcen verleiht sie Energiestadt-Hausschilder. 53 HausbesitzerInnen und Gewerbler haben sich bereits ein solches Schild an die Hauswand geschraubt. Und schliesslich wurde ein besonders umweltfreundliches Quartier zum ersten Energiestadt-Quartier der Schweiz ernannt. Die Wirkung aller Massnahmen schenkt ein. Der in Leistungsaufnahme umgerechnete Primärenergieverbrauch pro Kopf liegt in Erstfeld bei 3700 Watt (inklusive graue Energie für die Energiebereitstellung), also deutlich unter dem schweizerischen Durchschnitt von 5500 Watt.

Erstfeld steckt allerdings mitten in Veränderungsprozessen. Im nächsten Sommer wird vor dem Dorf der Neat-Basistunnel eröffnet. Dann wird es hier nochmals ruhiger. «Wir werden von der Bahn teilweise umfahren, aber nicht abgehängt», sagt Pia Tresch-Walker. Sie setzt grosse Hoffnungen auf die künftige touristische Nutzung der historischen SBB-Bergstrecke, deren Fortbestand noch nicht gesichert ist.

Zuversichtlich stimmt die Politikerin, dass die Gemeinde langsam wieder wächst. Im Energiestadt-Quartier und auf weiteren Baustellen entstehen neue Wohnungen, die sehr begehrt sind. Die Wohnungen seien hier bezahlbar, sagt sie, «doch die Leute merken auch, dass wir viel für die Wohnqualität machen. Unsere Energiepolitik hilft uns dabei, sie macht uns bekannt.»

Das Energiestadt-Label

Energiestadt ist ein Programm von Energie Schweiz. Das Label wird an Gemeinden vergeben, die freiwillig eine nachhaltige kommunale Energiepolitik umsetzen. Energiestädte fördern erneuerbare Energien, umweltverträglichen Verkehr und eine effiziente Nutzung der Ressourcen. Dabei werden die Gemeinden, Städte oder Regionen nach einem Punktesystem bewertet. Wenn sie mehr als fünfzig Prozent der möglichen Massnahmen realisieren, dürfen sie das Label Energiestadt tragen. Gegenwärtig sind das 373 Gemeinden.

Gemeinden, die mehr als 75 Prozent der möglichen Massnahmen realisieren, erhalten das Label Energiestadt Gold (European Energy Award® Gold). Es steht für überdurchschnittliche Leistungen. Dies ist die höchste Auszeichnung für Energiestädte. Gegenwärtig haben 32 Schweizer Gemeinden und Städte diesen Status erreicht.

Grundsätzlich senken tiefe Energiepreise den Anreiz, an freiwilligen Programmen teilzunehmen. Laut Kurt Egger, Programmleiter Energie Schweiz für Gemeinden, sinkt das Interesse der Gemeinden aber nicht – trotz wackeliger Energiestrategie 2050 und tiefer Strompreise. «Energiestädte sind näher bei den Leuten, und sie können schneller sichtbare Erfolge vorweisen.»