Cyberfeminismus: «Ich habe meine Barbie geköpft»

Nr. 9 –

Die US-amerikanische Programmiererin und Künstlerin Addie Wagenknecht sagt dem Monopol der weissen Kerle im Cyberspace den Kampf an: mit Feminismus, Teamgeist, Punch und Humor.

Das Trauma des «Ganz-genau-gesehen-Werdens»: Addie Wagenknechts Installation «Asymmetric Love» (2013), ein Kronleuchter aus Kameras. Foto: Courtesy of Bitforms Gallery

Edward Snowden, der bekannteste Whistleblower unserer Zeit, wäre fast ein unbekannter Informatiker geblieben. Denn Glenn Greenwald, der US-amerikanische Journalist, an den sich Snowden im Dezember 2012 mit seinen Informationen wandte, war nicht fähig, seine E-Mail-Kommunikation zu verschlüsseln. Erst als Snowden die US-Dokumentarfilmerin Laura Poitras kontaktierte, war eine sichere Kommunikation gewährleistet. Sie war der Schlüssel. Ohne sie hätte die bahnbrechende Enthüllung über die globalen Überwachungspraktiken des US-Geheimdiensts NSA im Sommer 2013 nicht stattgefunden. Im öffentlichen Rampenlicht aber standen vor allem Edward Snowden und Glenn Greenwald.

Die Episode legt das grundlegende Erzählmuster unserer digitalen Welt offen: Die öffentlichen Akteure im Cyberspace haben gefälligst weiss und männlich zu sein. An welche Personen denken Sie, wenn Sie auf Ihrem Apple-Computer einen Facebook-Eintrag über die Enthüllungsplattform Wikileaks lesen?

Unterhalb der Oberfläche sieht es zum Glück anders aus. Es gibt immer mehr Akteurinnen im Cyberspace, die das Monopol der weissen Kerle herausfordern. Kaum eine macht das so nachdrücklich wie die US-amerikanische Künstlerin und Programmiererin Addie Wagenknecht.

Bill Gates statt Ada Lovelace

«Die Computerwelt ist erst in den achtziger Jahren zu einer Männerwelt geworden», sagt Wagenknecht im Gespräch. «Viele Pionierleistungen im Bereich der Computerentwicklung sind von Frauen erbracht worden. Und über Jahrzehnte war die Anzahl von Frauen, die Computerwissenschaften studierten, gleich hoch oder sogar höher als die Anzahl Männer.» Der Wendepunkt sei mit der Markteinführung des Personal Computer gekommen. Denn dieser sei sehr direkt an Jungs und Männer vermarktet worden, so Wagenknecht.

«Computer sind etwas für Jungs, das war die soziale Erzählung, die bald auch die Popkultur erreichte. In den Filmen der neunziger Jahre war immer der Junge ‹der Hacker›, und es waren die Jungs, die zu Weihnachten einen Gameboy kriegten. Für die Mädchen gab es Barbiepuppen.» Auch Addie Wagenknecht hat mit Barbiepuppen gespielt. «Ich habe ihnen immer die Haare abgeschnitten und den Kopf abgerissen. Warum, weiss ich heute gar nicht mehr», erzählt die 34-Jährige. Als Folge dieser von der Werbe- und Kulturindustrie geförderten Entwicklung sei die Computer- und Gamewelt heute fast vollständig von einer «Männerbundnische» dominiert. «Es ist bezeichnend, dass Bill Gates und nicht Ada Lovelace, die im 19. Jahrhundert das weltweit erste Computerprogramm schrieb, das Gesicht unserer Computergeschichte ist», sagt Wagenknecht.

Die in New York lebende Künstlerin hat sich in den letzten Jahren intensiv mit der männlichen Dominanz im Cyberspace auseinandergesetzt – immer ausgehend von der Machtfrage: Wer darf in der öffentlichen Sphäre überhaupt auftauchen und agieren? Wem wird erlaubt, sichtbar zu sein?

«Meines Erachtens hat die Dominanz eines weissen und männlichen Blicks in der Computerwelt zwei Traumata hervorgebracht: das Trauma des Nicht-gesehen-Werdens und das Trauma des Ganz-genau-gesehen-Werdens beziehungsweise des Überwachtwerdens», sagt Wagenknecht. Von beiden Traumata seien Frauen betroffen, aber längst nicht nur. «Da ist zum Beispiel die afroamerikanische Gemeinschaft in den USA. Diese wird in vielen Bereichen – Bildung, Arbeitsmarkt, politische Teilhabe – übersehen, oder, besser gesagt, diskriminiert, zugleich gerät sie überdurchschnittlich oft ins Visier der Polizei und Justiz.» Mittlerweile sei unter dem Schlagwort #blacklivesmatter eine international vernetzte aktivistische Bewegung entstanden, die die sozialpolitischen Normen und Überwachungsmechanismen in Bezug auf Rasse, Geschlecht oder auch Religion herausfordert. «Diese Bewegung wirft ein dringend nötiges Schlaglicht darauf, wie massiv diese Machtstrukturen sind.»

Der Weg, den Addie Wagenknecht als Künstlerin und Programmiererin eingeschlagen hat, ist als «natürliches Nebenprodukt» ihrer Interessen entstanden. Schon in der Highschool habe sie aus Spass harmlose Computerviren entwickelt und diese als Kunstwerke verstanden. Der Computer blieb ihr «natürliches» Arbeitsgerät, später hat sie Computerwissenschaften und Multimedia studiert. An einer Kunsthochschule war Addie Wagenknecht nie: «Ich wollte nicht definiert werden oder in eine bestimmte Forschungs- beziehungsweise Kunstecke gesteckt werden», sagt Wagenknecht, deren Skulpturen, Installationen und Gemälde mittlerweile in weltweit renommierten Kunstmuseen ausgestellt werden.

Zu ihren bekanntesten Werken zählen ein Kronleuchter, der aus Überwachungskameras besteht, ein Roboter, der ein Kinderbett schaukelt, oder animierte Dildodrohnen, die Landschaftsbilder durchqueren. In Wien verteilte sie vor drei Jahren schwarze Balken an PassantInnen in Wien, um diese vor den Blicken der Überwachungskameras zu schützen. Es sind Kunstwerke voller Punch, die in der Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen im Cyberspace auch immer wieder auf Humor setzen.

Anwältinnen für die Sichtbarkeit

Addie Wagenknecht – Motto: «making middle-aged rich men uncomfortable» – setzt als politisch aktive Künstlerin neben dem Humor auf eine zweite Waffe: die Gemeinschaft. Vor drei Jahren gründete sie das cyberfeministische Kollektiv Deep Lab. Diesem Kollektiv gehören siebzehn Hackerinnen, Forscherinnen, Künstlerinnen und Journalistinnen an. «Es ging mir darum, eine auf gegenseitige Unterstützung basierende Umgebung für Expertinnen zu schaffen, einen Raum, um gemeinsam über Themen wie Privatsphäre, Überwachung und Anonymität nachzudenken und Gegenstrategien zu entwickeln», sagt Wagenknecht. Es sei ihnen auch darum gegangen, die richtigen Fragen zu stellen. «Wer baut die Server, auf denen unsere Daten lagern? Und wer programmiert die Websites, über die wir Beziehungen aufbauen wie zum Beispiel Twitter und Facebook? Wenn du die Hardware und die Software dafür baust, dann kontrollierst du die Kultur, du kontrollierst den Onlinehandel, die Wirtschaft und die Regierung. Du hast die Macht, alles zu manipulieren und so zu beeinflussen, wie du es willst.» Genau an diesem Punkt setzt Deep Lab an.

Bisheriger Höhepunkt der cyberfeministischen Kollaboration war ein einwöchiger Workshop im Dezember 2014 in Pittsburgh, aus dem diverse konkrete Projekte und Tools entstanden sind: beispielsweise eine per SMS aktivierbare, möglichst simpel gehaltene Bedienungsanleitung, um dezentrale und sichere Kommunikationskanäle zu installieren. Oder eine Software, die den ziemlich unlesbaren CIA-Folterreport in kleinere und nutzbare Dateien umwandelt, die bürokratische Verschleierungssprache durch klare Begriffe ersetzt und den Report so decodiert.

Am Deep-Lab-Workshop sind auch neue Forschungsfelder besetzt worden, eine historische Aufarbeitung des Cyberfeminismus beispielsweise oder die Auseinandersetzung mit der «Datenkolonisation». Als solche bezeichnet das Kollektiv die Strategie der grossen Internetkonzerne, bisher wenig erschlossene Regionen nicht über eine öffentliche Infrastruktur, sondern über eine private ans Internet anzuschliessen. Der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg möchte nicht umsonst einer Milliarde InderInnen kostenlosen Zugang zu ausgewählten Onlinediensten ermöglichen. Das Internet in Indien wäre dann kein offener Raum mehr, sondern eine Gated Community, die von Facebook kontrolliert wird.

Die diversen Deep-Lab-Projekte wurden am Ende des Workshops in einem tollen, im Netz frei verfügbaren Buch zusammengefasst. Ausserdem hat das Kollektiv ein Video veröffentlicht, das als Manifest angelegt ist. Die Botschaft des Videos laut Addie Wagenknecht: «Wir sind die Anwältinnen für die Sichtbarkeit von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen in unserer Gesellschaft. Und wir werden hartnäckig weiterarbeiten.»

Das Haus der elektronischen Künste in Basel wird Addie Wagenknecht von Mitte September bis Anfang November 2016 eine Einzelausstellung widmen.