Gegen die Entrechtungsinitiative: Ein Weckruf, mit dem niemand gerechnet hatte

Nr. 9 –

Der Abstimmungserfolg hat viele Eltern. Zum Beispiel die InitiantInnen des «Dringenden Aufrufs». Sie sammelten 1,2 Millionen Franken für ihre spontane Kampagne – und vernetzten Persönlichkeiten von links bis weit ins bürgerliche Lager hinein.

Auch Helvetia ist aufgewacht: Street Art an der Zürcher Weststrasse. Foto: Michael Guggenheimer

Es ist ein ungleiches Paar, das am Abstimmungssonntag im Speisewagen von Zürich Richtung Bern braust, wo im Hotel Bellevue Medien und PolitikerInnen den Ausgang der Abstimmung abwarten: Peter Studer, achtzig, einst bürgerlicher Chefredaktor von «Tages-Anzeiger» und Schweizer Fernsehen, und die deutlich jüngere Gewerkschafterin und Schriftstellerin Annette Hug sprechen sich vor dem Medienauftritt ab. Ein ungleiches Paar, das sinnbildlich und konkret für das steht, was seit den Januarwochen bis zum Abstimmungssonntag im Land passierte: Bürgerliche, Linke, Junge, Alte, Arbeiterinnen, Wirtschaftsbosse, Kirchenleute, Intellektuelle, Künstlerinnen, Studenten, Richterinnen, Staatsanwälte – und ja, auch PolitikerInnen erhoben ihre Stimme und sagten: «Nein!»

Sie alle einte die Verteidigung des kleinsten gemeinsamen Nenners, der dieses Land im Kern zusammenhält und nun von der SVP brutal angegriffen wurde: Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Verhältnismässigkeit, Schutz der Minderheiten und des Individuums vor Mehrheitsterror und staatlicher Willkür. Peter Studer sagt: «Die SVP hat mit dieser Initiative den Bogen überspannt.»

Erste Signale im November

Er sollte recht behalten: Es kam nicht zur Kernschmelze, zwei Stunden später flimmerte die erste Hochrechnung über die Bildschirme. 59 Prozent wiesen eine von den Wahlen siegestrunkene SVP in die Schranken. Dabei sollte es bleiben. Was im Land in jüngerer Zeit vor sich ging, ist nur noch mit der EWR-Abstimmung (78,8 Prozent Stimmbeteiligung) und der Armeeabschaffungsinitiative (69,2) vergleichbar. Doch diesmal (63,1) verloren die rückwärtsgewandten Kräfte. Und eine neue, kaum fassbare Bewegung politisierte eine bis dahin vom SVP-Powerplay der letzten Jahre paralysierte stumme Mehrheit.

Im Dezember hatte angesichts der Umfragen niemand einen solchen Erfolg für möglich gehalten. Parteien und Wirtschaftsverbände hatten die Abstimmung verloren gegeben und waren in eine kollektive Depression verfallen. Keiner der Politprofis machte Geld für eine Gegenkampagne locker. Die Politik versagte. Doch bereits im November waren ausserhalb der etablierten Organisationen erste Zeichen des Widerstands erkennbar.

So verschickte die St. Galler Paul-Grüninger-Stiftung einen «Aufruf» und wies auf die «dramatischen Konsequenzen für Hunderttausende» hin. Dieser Aufruf formulierte bereits die Umdeutung der Initiative, die im Januar die Kampagne der SVP ins Stottern brachte und ihr die Deutungshoheit entriss: «Beim irreführend betitelten Volksbegehren handelt es sich um eine Anti-Rechtsstaat-Initiative.»

In der Grüninger-Stiftung sitzen Köpfe, die später eine entscheidende Rolle bei der Gegenkampagne spielen sollten: SP-Ständerat Paul Rechsteiner und der Historiker und WOZ-Autor Stefan Keller, der später den «Dringenden Aufruf» formulierte. Unabhängig davon trafen sich in Bern VertreterInnen verschiedener Komitees zu einer ersten Sitzung. Die Leitung der NGO-Kampagne übernahm die Operation Libero. Gegründet worden war die liberale Organisation von jungen StudentInnen nach der Annahme der SVP-«Masseneinwanderungsinitiative».

Neue Allianzen und Methoden

Überhaupt, die Erinnerung an diese Initiative. Sie war just im gleichen Zeitraum vor zwei Jahren, im Februar 2014, angenommen worden, fast ohne vorgängige Diskussion. Wohl aufgrund dieser Erfahrung veröffentlichten mehrere Medien vor Weihnachten grundsätzliche Texte zur Tragweite der «Durchsetzungsinitiative»: die NZZ, die WOZ, das «Magazin». Nicht gesteuert, aber sich gegenseitig sehr wohl zur Kenntnis nehmend. Und dann, endlich, erwachten auch PolitikerInnen in Bern. Vor Weihnachten wandten sich alle StänderätInnen, mit Ausnahme der SVP-VertreterInnen, unter Federführung des SP-Manns Hans Stöckli in einem Manifest gegen die Initiative.

Auf dem Neujahrsspaziergang durch den St. Galler Wildpark Peter und Paul klingelte schliesslich Paul Rechsteiners Handy. In der Leitung: Peter Studer. Der war gerade von einer längeren Asienreise zurückgekehrt und tief besorgt über die möglichen Folgen der «Durchsetzungsinitiative» und den fehlenden öffentlichen Widerstand. Er schlug vor: eine Plakatkampagne. Während die Milliardärspartei wie gewohnt das Land mit Plakaten zupflasterte, war Widerstand im öffentlichen Raum inexistent. 200 Plakate waren das Ziel, 200 000 Franken die dafür benötigten Mittel.

Links liess Rechsteiner seine Kontakte spielen, auf bürgerlicher Seite öffnete Peter Studer Türen. Mit einer kleinen Gruppe von MitstreiterInnen entwickelten sie die Kampagne. Treffpunkt: eine Bar im Zürcher Hauptbahnhof mit sprechendem Namen: Da Capo. Zwanzig Leute sollten gefunden werden, die je 5000 Franken zusichern. Damit wäre ein Anfang gemacht. Ein Aufruf im Netz sollte möglichst viele Menschen auf das Anliegen aufmerksam machen und Kleinspenden für die Plakate bringen – gestaltet vom Zürcher Grafiker Jonas Voegeli. Die Kampagne sollte gleichermassen im Netz wie im öffentlichen Raum spielen.

Eine professionelle Crowdfunding-Organisation wurde angefragt. Doch der zeitliche Vorlauf war zu knapp. Also nahm es das Komitee selbst in die Hand. Die junge SP-Campaignerin Andrea Arezina übernahm die Koordination, Thomas Zimmermann, der kampagnenerfahrene Mediensprecher des Gewerkschaftsbunds, buchte die Plakate und Inserate. Die Kampagne ging einerseits von einzelnen BürgerInnen aus, andererseits wäre sie ohne institutionelles Know-how in der kurzen Zeit nicht möglich gewesen.

Am 24. Januar ging der «Dringende Aufruf» online. Und brachte innert Tagen weit mehr als die erforderlichen 200 000 Franken. Es war, als hätten die Leute nur auf eine Handlungsmöglicheit gewartet. Die Unterschriftenaktion unterzeichneten schliesslich über 50 000 Leute, zu den ErstunterzeichnerInnen zählten die AltbundesrätInnen Pascal Couchepin und Ruth Dreifuss. Und der Geldfluss schwoll weiter an. Am Ende hatten rund 13 000 SpenderInnen dem «Dringenden Aufruf» 1,2 Millionen Franken zur Verfügung gestellt, ein Drittel davon waren Kleinspenden zwischen zehn und zwanzig Franken. Statt der geplanten 600 Plakate in den grossen Bahnhöfen der Schweiz waren es schliesslich 1200.

Aus einer tiefen Narkose

Und noch immer war viel Geld vorhanden. Eilig plante das Komitee eine Inseratekampagne in der Pendlerzeitung «20 Minuten» und wollte damit den Rechten ihre Mythen wegschnappen: Sie konnten dafür «Schweizermacher» Emil und Alpöhi-Darsteller Bruno Ganz gewinnen. Ebenfalls mit auf den Inseraten: die gesellschaftliche Realität – eine Fussballmannschaft mit Secondos, eine Schulklasse, die Belegschaft einer Grossschreinerei. Schliesslich reichten die Mittel auch noch für eine Inseratekampagne in den grossen Regionalzeitungen.

Das alles war keine von langer Hand geplante professionelle Kampagne mit unzähligen Sitzungen und Absprachen. Alles war knapp, die Zeit, zunächst die Mittel und das Personal. Die Kampagne entwickelte ihre Dynamik aus sich selbst – und ging am Ende auf. Es war eine Kampagne, die sich so nicht planen lässt.

Die Operation Libero entkräftete derweil im Netz die Argumente der «SVP-Trolle», um es mit dem Ausdruck von Flavia Kleiner, der Kopräsidentin der Operation Libero, zu sagen. Komitees, Aufrufe und die Kampagne der FDP, die spät einsetzte, aber im rechtsbürgerlichen Lager wirkte, Aufrufe der Staatsanwälte, Richterinnen und Rechtsprofessoren, Aktionen der Kirchen: Es war, als wäre die Mehrheit des Volkes aus einer von der SVP verabreichten Narkose erwacht und wieder handlungsfähig.

Auch die WOZ mischte sich in die Kampagne ein, und das zu einem sehr frühen Zeitpunkt und nicht bloss publizistisch: Mit einer Plakataktion, die bereits am 14. Januar lanciert und von fünf prominenten Schweizer SchriftstellerInnen mitgetragen wurde, gab sie dem Widerstand ein Mittel in die Hand. Die Plakate, die online bestellt werden konnten, fanden reissenden Absatz und hingen (und hängen) an vielen Orten im ganzen Land. Die erste Auflage war rasch vergriffen, eine zweite Auflage wurde gedruckt.

Bewegungen wie das Nein gegen die SVP-Dominanz im öffentlichen Raum und in den sozialen Medien lassen sich nicht planen – und wohl auch nicht als Blaupause verwenden. Aber dass sie erfolgreich war, zeigt: PolitikerInnen, die sich auch als BürgerInnen verstehen, und BürgerInnen, die sich politisch einbringen, können dieses Land bewegen. Auch gegen die Millionen der rechten Elite. Das ist die ermutigende Botschaft dieses Abstimmungskampfs.