Kunst: Die Frau hinter den Manifesten

Nr. 9 –

Cate Blanchett im Dutzend: In Julian Rosefeldts Berliner Installation «Manifesto» bewegt sich die australische Schauspielerin bravourös durch den Thesenpark der Avantgarde.

  • Forschungsreisende im Bann der absoluten Form: Cate Blanchett im Forschungsanzug des Suprematismus der russischen Avantgarde. Alle Fotos: © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
  • Penner in Industrieruinen: Der Situationist im Geist Guy Debords als einsamer Rufer in der Betonwüste.
  • Honig und Exkremente in allen Farben: Mit ihrer dadaistischen Grabrede durchkreuzt sie jede Andacht.
  • Auf einer Cocktailparty der gelangweilten Reichen ruft sie die Verheissungen des Vortizismus aus.
  • Ihr Blick sagt es: Die strahlende Zukunft einer reinen Architektur liegt auch schon auf dem Müllhaufen der Geschichte.
  • Als Choreografin dirigiert sie ein Glitzerballett – und predigt mit Fluxus das schiere Gegenteil.
  • Diese einstudierte Aura von Kompetenz: Nachrichtensprecherin doziert über Konzeptkunst.

Ein Lumpenbündel schleppt sich durch eine Landschaft aus Industrieruinen. Es ist ein Penner, unterwegs zu einer verlassenen Plattform in schwindelerregender Höhe, wo er sein notdürftiges Obdach eingerichtet hat. Oben angekommen, greift er zum Megafon und bellt Parolen für eine revolutionäre neue Kunst ins Land hinaus. Aber wer sollte ihn hören hier oben?

Der Avantgardist: ein Rufer in der Betonwüste, ein Penner ohne Publikum. Nach seiner Ansprache ins Nichts dreht er sich zur Kamera. Er reisst die Augen auf, kalte Verachtung in seinem Blick, als er uns, den Gästen im Museum, unverwandt ins Gesicht schaut. Und da erkennen wir sie endlich hinter ihrer Maske. Braune Zähne, verfilzte Mähne, der Bart ein Wildwuchs: Dieser Penner, das ist Cate Blanchett.

Sie begegnet uns noch in einem Dutzend weiteren Rollen, hier im Hamburger Bahnhof in Berlin. «Manifesto» heisst diese Installation des deutschen Videokünstlers Julian Rosefeldt, sie besteht aus dreizehn filmischen Loops von je zehn Minuten Länge, verteilt auf dreizehn grosse Leinwände.

Im Mittelpunkt eben: die multiple Cate Blanchett. Klar, das ist erst mal ein atemberaubender darstellerischer Stunt, Wandelbarkeit als Spektakel. Wir sehen Blanchett als torkelnde Rockerin und als Forscherin in einem futuristischen Komplex. Wir sehen sie – abgelöscht, aufgedunsen – als Arbeiterin in einer Mülldeponie, und gleich daneben lächelt sie uns – Lipgloss, Föhnfrisur – als TV-Sprecherin entgegen, mit dieser einstudierten Aura von Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit.

Aber «Manifesto» ist nicht bloss ein Schaufenster für diesen Filmstar, sondern vor allem auch ein grosser literarischer Echoraum. Die Texte, die Cate Blanchett in ihren verschiedenen Rollen spricht, hat Rosefeldt aus über fünfzig Manifesten kompiliert. Der Penner vom Beginn etwa redet situationistisch, mit den Parolen von Guy Debord und Komplizen. Ein bisschen was von Marx und Engels ist auch darunter, ansonsten besteht das Repertoire aus lauter ästhetischen Kampfschriften, vor allem solchen aus der klassischen Moderne. Die Quellen reichen von Futurismus bis Fluxus, von Dadaismus bis Surrealismus – der ganze Thesenpark der avantgardistischen Ismen also, bis hin zum «Dogma 95» aus der Zeit des dänischen Filmwunders.

Was macht Rosefeldt mit diesem Wust aus Texten? Er schliesst die programmatischen Ansagen künstlerischer Manifeste mit gesellschaftlichen Lebenswelten kurz. Genauer: Er lässt die Appelle der Kunst mit konkreten sozialen Settings einer stilisierten Gegenwart kollidieren. Das Popmanifest von Claes Oldenburg etwa inszeniert er, schön fies, als steifes Tischgebet am bürgerlichen Familientisch – und nebenbei auch als ironische Homestory, denn an der Tafel sitzt fast die ganze Familie Blanchett, mit Ehemann Andrew Upton und den drei Söhnen.

Absolut und apodiktisch

Den Futurismus mit seinem Hohelied auf Technik und Tempo überträgt Rosefeldt auf den Hochfrequenzhandel im Finanzkapitalismus. Das klingt erst mal allzu naheliegend, führt aber zu Rückkoppelungseffekten. So will der Futurismus die Museen zerstören, weil diese doch nur Friedhöfe unserer Kultur seien. Aber wirkt die Aktienbörse, wo Cate Blanchett an ihrem Computer sitzt, nicht selber wie ein Mausoleum? Tote Architektur aus Pulten und Monitoren, ein steriles Krematorium zur Verbrennung von Kapital.

Von der «aufregenden Psychologie des Nachtlebens», das die futuristischen Maler in ihrem Manifest besingen, ist hier jedenfalls nichts zu spüren. Und vom «göttlichen Licht der Elektrizität» ist auch nur das dröge Flimmern der Aktienkurse auf den Monitoren übrig.

Das Manifest war ja von jeher ein Genre von Anmassung und Präpotenz: absolut und apodiktisch in seiner Anstiftung zum Bruch mit allem Dagewesenen. «Manifesto» ist nicht zuletzt eine Hommage an diese explosive Textsorte zwischen Theorie und Praxis, zwischen Kunst und Literatur. Das Manifest ist militanter Appell, provokative Absichtserklärung, oft auch ein Mittel für hemmungslose Selbstvermarktung. Eklatant übrigens das Geschlechterverhältnis bei den zitierten Schriften in «Manifesto», und man darf davon ausgehen, dass es historisch einigermassen repräsentativ ist: Unter allen ausgewiesenen AutorInnen finden sich nur gerade vier Frauen. Das Manifest, ein Männerding. Hier aber: der darstellerische Triumph einer Frau.

Auch wenn sich kaum jemand zu lachen getraut, weil wir hier schliesslich im Museum sind: Vieles an «Manifesto» ist richtig komisch. Cate Blanchett als Primarlehrerin zum Beispiel, die im Klassenzimmer die Aufsatzhefte verteilt und die Kinder mit ästhetischen Merksätzen von Jean-Luc Godard oder Dsiga Wertow behelligt. So eine Lehrerin müsste man haben! «Und denkt daran», bläut sie der Klasse mit den Worten von Jim Jarmusch ein, «nichts ist originell. Ihr dürft stehlen, wo immer ihr wollt.» Wieder so eine elektrisierende Kollision zwischen historischem Manifest und gegenwärtigem Setting, wo die Kinder des Internets diese Parole ja längst verinnerlicht haben. Heute heisst das Copy/Paste, und Hausarbeiten kann man bekanntlich auch aus dem Netz runterladen.

Auch den Abgesang auf das Manifest hat Rosefeldt in seiner Installation mit einkalkuliert. Immer dann nämlich, wenn die Figuren alle gleichzeitig in die Kamera sprechen, im monotonen Singsang einer Litanei: Cate Blanchett redet dann aus allen Ecken des Raums im Chor mit sich selbst. Es ist ein polyphones Mantra, in dem die unterschiedlichsten Positionen in einem indifferenten Stimmengewirr untergehen. Die Potenz der einzelnen Manifeste löst sich im kollektiven Akkord auf.

Julian Rosefeldt feiert also die poetische Kraft des Manifests, seine aufregende Militanz in der Sprache wie im Denken. Aber die Ironie ist nicht zu übersehen: Alle diese Figuren, die fortwährend die radikale Aktion beschwören, bleiben doch eingehegt in ihren alltäglichen Verrichtungen. Niemand schreitet zur Tat, sie reden nur davon. Wer hochtrabend den absoluten Bruch mit dem Bestehenden beschwört, erspart sich alles Weitere.

«Aber wir verroten nicht»

Und immer wieder: diese schwermütige Blaskapelle. Sie gehört zu einem Trauerzug, der sich von einer Kapelle bis an ein offenes Grab bewegt. Cate Blanchett trägt hier Trauerflor, aber die Abdankungsrede, zu der sie jetzt ansetzt, durchkreuzt jede Andacht. Sie spricht von einem Mund voll Honig und Exkrementen und davon, dass sie das Trauern beenden will: «Wir sind tot, aber wir verrotten nicht.» Hätten Sie es erkannt? Wir sind bei den dadaistischen Manifesten, die dem sinnlosen Sterben ihren unsterblichen Widersinn entgegenschleudern.

Und man fragt sich: Was für ein Leichnam wird in diesem Sarg zu Grabe getragen? Ist es die Kunst oder nur der Glaube an ihre transformierende Kraft? Ist es der Dadaismus, dieser feierlich dekorierte Jubilar von Zürich?

Vor der Trauergemeinde gibt Cate Blanchett jetzt die gerührte Diva: «Dada ist immer noch Scheisse», sagt sie im unheiligen Ernst des Tristan Tzara. «Aber von jetzt an» – hier verleiht sie ihrer Stimme ein melodramatisches Beben – «von jetzt an wollen wir in verschiedenen Farben scheissen.»

Julian Rosefeldt: «Manifesto», Hamburger Bahnhof, Berlin. Bis 10. Juli 2016.